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Der Lyriker Lewin Westermann, 1980 in Meerbusch geboren.

© Bettina Wohlfender/Verlag

Naturpoetik von Levin Westermann: Mensch, ärgere mich nicht!

Levin Westermann, Bachmann-Kandidat des Jahrgangs 2020, widmet sich in der Essaysammlung „Ovibos moschatus“ der Natur und der Einsamkeit.

Die Figur des „Waldgängers“ kann in der Literatur der Moderne auf eine lange Karriere verweisen. Der einsame Wanderer im Herrschaftsraum der Bäume firmiert schon bei Henry David Thoreau, dem Urahn der „Nature Writing“-Bewegung, als Repräsentant des Widerstands gegen die Folgen einer katastrophischen Moderne, die den Planeten verwüstet hat.

Später, bei Ernst Jünger, repräsentiert der Waldgänger den solitären Partisan gegen die Zumutungen einer instrumentell verwalteten Welt.

Auch der Dichter Levin Westermann outet sich in seinem neuen Essaybuch „Ovibos moschatus“ als leidenschaftlicher Waldgänger, ja er rühmt den Wald als Ort der „höchsten Befreiung“.

Ein Video-Porträt des Dichters, produziert anlässlich des diesjährigen Bachmann-Wettbewerbs, kann man in dieser Hinsicht als Poetik in nuce lesen. Denn die Kamera folgt hier den Schritten eines Wanderers, der einen Waldpfad bergauf geht. Man sieht nur die Waldlandschaft, hört die Schritte des Gehenden, er selbst bleibt unsichtbar.

Am Ende des Porträts fällt der Blick auf eine aus Holz geschnitzte Maske, die an einem Baum befestigt ist. Die Bäume und die an ihr befestigte Maske fungieren bei Westermann als existenzielle Signaturen einer Lebensform, die gegen alle Imperative einer zynischen Fortschrittsvernunft und einer missverstandenen Urbanität gerichtet ist.

Kartografie von Sehnsuchtsorten

Bereits in seinen Gedichten trat uns dieser Autor als eine Art lyrischer Einsiedler entgegen, der mit seinen poetischen Imaginationen an die Ränder der bewohnbaren Welt geht. In „Ovibos moschatus“, einer Sammlung von sieben thematisch miteinander verknüpften Essays, kartografiert er nun die Sehnsuchtsorte, um die sein Denken und Dichten kreist.

Es sind die Extremlandschaften der nördlichen Arktis und ihre Bewohner, die Natsilingmiut (dt. die Netsillik-Inuit), wie auch die Polarwölfe und Moschusochsen, die Westermann hier zu Antipoden einer besinnungslosen Moderne erhebt.

Der im Buchtitel aufgerufene Moschusochse, eines der ältesten und widerstandsfähigsten Tiere der Welt, firmiert als Wappentier des Autors, der sich mit seinem Bekenntnis zu einem schamanistisch inspirierten Naturverhältnis weit entfernt von den Gedankenwelten seiner lyrischen Zeitgenossen.

Kampfansage an die Bestie Mensch

So preist er in den ersten drei Kapiteln die Territorien des Eises und der Finsternis als Kraftorte intensiver Selbsterkundung, die arktische Tundra erscheint als „weißer Planet“ und fast als heiliger Gral der wahren ästhetischen Empfindung.

Man darf sich Westermann durchaus als Geistesverwandten der mystischen Beat-Poeten vorstellen, als emphatischen „Säugetierpatrioten“, wie sich etwa der kürzlich verstorbene amerikanische Dichter Michael McClure bezeichnet hat. Dieser „Säugetierpatriot“ ist furchtlos genug, um die anthropologische Differenz zwischen Mensch und Tier infrage zu stellen.

Es nötigt Respekt ab, wie sich Westermann hier offen und ungeschützt als Anhänger einer Tierrechts-Ethik zu erkennen gibt und beispielsweise die Beobachtungen des Biologen Carl Safina referiert, dass Tiere nicht nur über Emotionen verfügen, sondern auch um ihre Artgenossen trauern können.

[Levin Westermann Ovibos moschatus Essays. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2020. 202 Seiten, 20 €.]

So kann man dieses Essaybuch auch als eine große Kampfansage an die Bestialität der Spezies Mensch lesen, die es zur Selbstverständlichkeit erklärt hat, dass Tiere massakriert, geschlachtet und verzehrt werden.

Und auch wenn der von Westermann reklamierte Begriff von „Spiritualität“ mitunter unscharf bleibt, gerade in Abgrenzung zum Religionsbegriff, folgt man doch fasziniert dieser Poetik der Absonderung und der Apologie der selbstgewählten Einsamkeit.

Dichtung als Überlebensmittel

Ein zweiter großer Themenstrang des Buches ist die scharfe Kritik an den Gründervätern der Vereinigten Staaten und an der Besiedlungsgeschichte Nordamerikas. Westermann geißelt sie als eine lange Geschichte der Entwürdigung und Vernichtung der Native Americans, eine imperialistische Hybris, der auch im Amerika Donald Trumps noch gehuldigt wird.

Genuin neu sind diese Einsichten nicht, aber es imponiert die Wucht, mit der hier ein junger deutscher Lyriker den fortdauernden Skandal von Rassismus und Kolonisierung angreift.

Es wirkt konsequent, wenn Westermann sein Bezugssystem jenseits dichtungstheoretischer Debatten ansiedelt, bei Biologen und Naturforschern wie Barry Lopez, Robert Macfarlane oder Eva Meijer.

Sein wichtigstes Credo entleiht er jedoch bei der Dichterin Emily Dickinson: „Wenn ich es physisch spüren kann, dass meine Schädeldecke abgenommen wird, weiß ich, das ist Dichtung.“ Dass Poesie für diesen Dichter ein Überlebensmittel von existenzieller Dringlichkeit ist, beweist in „Ovibos moschatus“ in eindrucksvoller Weise.

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