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Ludovine Sagnier spielt das Opfer, das sich nur langsam befreit.

© Christophe Raynaud De Lage/Theatre de la ville

MeToo am Pariser Theater: Gefängnis aus Worten

Das Buch war ein internationaler Erfolg. Jetzt kommt „Die Einwilligung“ von Vanessa Springora auf die Bühne.

Von Eberhard Spreng

Auf dem Höhepunkt der MeToo-Debatte in Frankreich veröffentlichte die Verlagslektorin und Autorin Vanessa Springora 2020 ein folgenreiches Buch. Als Vierzehnjährige war sie von dem pädophilen Literaten Gabriel Matzneff verführt worden.

Viele Jahre später schildert sie in „Le Consentement“ ihren Kampf um die Befreiung aus einem Gefängnis aus Angst, Wut und Scham. Es ist in zahlreiche Sprachen übersetzt worden und kam in Deutschland unter dem Titel „Die Einwilligung“ heraus.

Am Théâtre de la Ville hat dies nun Sébastien Davis mit der Filmschauspielerin Ludovine Sagnier inszeniert. Auch heute gibt es in der französischen Gesellschaft einen großen Hallraum für diese Arbeit. Erst vor kurzem demonstrierten Zehntausende Frauen in Paris und anderen großen Städten gegen sexualisierte Gewalt. Sie plädieren für eine Änderung der Gesetze. Immer wieder finden sich im Pariser Stadtbild Zeugnisse der Mobilisierung.

Am Aufgang zum Pont des Arts klebt die Anklage: „Gabriel Matzneff, der pädokriminelle Serienvergewaltiger, ist dank Verjährung ein freier Mann.“ Wenige Kilometer weiter westlich hat das Théâtre de la Ville nahe der Place de la Concorde sein Ausweichquartier bezogen und stimmt mit einem Bühnensolo in die Anklage ein. Im Espace Cardin steht Ludivine Sagnier auf der Bühne.

Sie spielt die „V.“ -der Namenskürzel, unter dem Gabriel Matzneff Vanessa Springora in seiner pädophilen Literatur anonymisierte. Der berühmte Literat hatte die Minderjährige verführt, ihr Liebes- und Geltungsbedürfnis ausgenutzt und die ungleiche Beziehung zu einer göttlichen Liebe stilisiert.

Mühelos verkörpert die Aktrice mit leicht unbeholfenen Gesten den juvenilen Charme des Teenagers, schildert die Anziehungskraft, die der Fünfzigjährige auf sie ausübte, die Fahrt im Taxi nach einem Dinner mit Menschen aus der Literaturszene, zu der ihre Mutter sie mitgenommen hatte. Die alleinerziehende Mutter, die naive Sittenpolizei, sie alle sind Komplizen einer Verbindung, die Vanessa Springora noch lange Zeit später traumatisieren sollte.

Ein Kirchenchor ertönt im Background, wenn Ludivine Sagnier schildert, wie der durchtriebene Manipulateur ihr ewige Treue schwört und die Götter verantwortlich macht für die Begegnung ihrer auserwählter Seelen. Es geht viel um das absolut Dämonische und die narzisstische Perversion des heute 86-Jährigen.

Ein offener Brief trat 1977 für die Befreiung von drei Männern ein, denen sexuelle Beziehungen zu Dreizehn- und Vierzehnjährigen vorgeworfen wurde. Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und der spätere Kulturminister Jack Lang gehörten zu den Unterzeichnern. Was Matzneff tat, galt in linken Intellektuellenkreisen damals fast schon als chic. Das „Einverständnis“ war ein gesellschaftliches.

Was die Affäre mit der minderjährigen Vanessa Springora in der Rückschau ganz nachvollziehbar zu einem unerträglichen Missbrauch machte, war die literarische Ausbeutung, die Matzneff mit ihr betrieb. Denn die überdauert die Phase der Selbstbefreiung und Loslösung aus einer Beziehung voller seelischer Vergewaltigungen. Sie selbst sei in der Feder des Literaten zu einer Fiktion geworden, noch bevor ihr Leben überhaupt Gestalt annehmen konnte, verurteilt zur Erstarrung in einem Gefängnis aus Worten.

Hinter einer milchigen Gaze steht die Aktrice wie ein Schemen, nur ihre Hände zeichnen sich scharf ab, ausgesteckt in Richtung Publikum. Literatur, oft gelobt als heilsame Ordnungsmacht, ist hier Medium einer kulturellen Vergewaltigung.

Das sah und hörte man selten so deutlich und man begreift dabei auch, dass die Befreiung vom Fremdbild, die Vanesssa Springora in ihrem Buch gelingt, genau da angreifen muss, wo die Gefangenschaft begann: Auf die Literatur der Unterdrückung antwortet sie mit der Literatur der Emanzipation.   

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