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Kultur: Micha der Schreckliche

Russland schreibt immer denselben Roman: Nun heißt der Held Chodorkowski / Von Viktor Jerofejew

Der berühmteste zeitgenössische Roman Russlands, ein wahrhaft skandalöser Bestseller, der nicht nur in jeder Familie diskutiert wird, sondern auch international Beachtung findet und die Eliten beunruhigt, er trägt den Titel „Michail Chodorkowski“. Genau wie bei Puschkins „Eugen Onegin“ ist der Name des Protagonisten gleichzeitig Signum des Werks. Dass der Roman nicht in Buchform erscheint, spielt keine Rolle. Die Dinge liegen heute anders. Romane werden in Fernsehserien geboren. Das Leben ist stärker als Bücher. Kurz gesagt: Modische Kunstwerke lassen sich heute nicht mehr in die Form eines literarischen Textes zwängen. Sie schlagen sich als unvermittelte Realität in der russischen Lebenswelt nieder, wo man mit literarischen Figuren wie mit lebenden Menschen verkehrt – und umgekehrt. Die Bedeutung einer Figur wie „Michail Chodorkowski“ ist eine Herausforderung für jeden russischen Leser. Lassen Sie uns die Autorschaft später erörtern. Zunächst sollten wir, wie es uns in der Schule beigebracht wurde, die Frage stellen, ob der Protagonist ein Held oder ein Antiheld ist.

Michail Chodorkowski ist – genau wie die Hauptfigur in Lermontows berühmtestem Roman – „ein Held unserer Zeit“. Wie Rachmetow, der Protagonist aus Tschernyschewskijs „Was tun?“, lässt er sich als „neuer Mensch“ bezeichnen. Chodorkowski vereint in sich Eigenschaften, die unvereinbar scheinen. Er hat alles auf den Kopf gestellt. Er ist ein Kapitalist, der das erfolgreichste russische Privatunternehmen gegründet hat. Aber anstatt sich mit der Profitgier zu begnügen, was schon zynisch genug wäre, denkt er über das Wohl seines Landes nach, über dessen globale Vernetzung, über das Schicksal von Waisen, über wohltätige Werke. Trotzdem sind seine politischen Ambitionen unklar. Dass er einem jüdischrussischen Elternhaus in Moskau entstammt, wird ebenso beargwöhnt wie seine Intelligenz – ist er nicht ein bisschen zu schlau, um es ernst zu meinen?

Der Autor dieses Buches – wer immer es auch sein mag – ist ein ziemlich gewieftes Kerlchen. Er machte aus der Chodorkowski-Geschichte einen Krimi. Vor den Augen der Welt ließ er ihn ins Gefängnis werfen und erklärte ihn zum Gauner, noch bevor das Gericht sein Urteil fällte – ein unverholenes Plagiat von Gogols Figur Tschitschikow aus den „Toten Seelen“. Aber auch ein Protagonist aus Gontscharows „Oblomow“ kommt einem in den Sinn: der deutsche Unternehmer Stolz. Genau wie Chodorkowski hat er alles – außer die Sympathie des Lesers.

Das Problem besteht darin, dass ein geschickter, praktischer, unternehmerischer Mensch in Russland nicht nur Neid weckt, sondern auch ganz gewöhnliche russische Abneigung. Man mag ihn einfach nicht. Punkt. Darin liegt das Drama unseres Helden. In Russland identifiziert man sich eher mit dem Staatsanwalt, auch wenn der Unsinn erzählt und eine fiese Visage hat. Russen sind weit entfernt von abstrakten Werten wie „Humanismus“, „Freiheit“ und „Verantwortung“. Das sind fremde Wörter, die einen beklemmenden Eindruck machen. Chodorkowski will ein Russland bauen, in dem diese Wörter niemanden mehr beklemmen. Es sieht aus, als sei in seinem Roman die russische Zukunft von der russischen Vergangenheit eingeholt worden – während die Handlung in der Gegenwart spielt.

Manche glauben, dass Chodorkowski Russland erlösen will. Sie schreiben Briefe, die ihn retten sollen, sie regen sich auf, sie empören sich – aber all diese Jünger, Schriftsteller und Schauspielerinnen sind viel zu weit entfernt vom russischen Volk. Der Staatsanwalt ist näher dran: Wie ein echter Chef ruft er in ihren Herzen Furcht hervor! Gut möglich, dass der Staatsanwalt sie wie in Stalins Tagen aus irgendwelchen Vorwänden heraus verurteilt und erschießen lässt – es wäre egal, er bliebe trotzdem einer von uns. Ein paar werden erschossen, andere geboren – wo ist der Unterschied? Wir sind das Volk. Die, die anders sind, brauchen wir nicht.

Aber plötzlich kommt so ein Chodorkowski daher, wie ein Schatten dessen, was kommen wird, und erschreckt uns alle mit seinem Verstand und der Transparenz seiner Macht. Man hat ihn gewarnt: Hau ab, verlass das Land, sonst sperren wir dich ein. Und er sagte bloß trotzig: Ich gehe nicht. Dann zogen sie ihm Masken und Kostüme an, und los ging der Karneval. Man mag das bei uns nicht, wenn einer nicht macht, was alle machen. Das riecht nach Hochmut. Und bei Chodorkowski kam der Hochmut vor dem Fall.

„Ich“, sagt er, „zahle seit 1994 Steuern.“ Na, da freuen wir uns aber! Ekelhaft! Wir haben ja nicht mal Geld, das versteuert werden könnte! Und wenn der nun eines Tages Präsident wird? Zur Hölle mit diesem Saubermann! Wir sind alle dreckig. Er trinkt nicht, wir saufen. Er liebt Amerika, wir wünschen Amerika die Pest an den Hals. Wenn Du ein Oligarch bist, dann kauf Dir eine Yacht und dümple damit im Meer herum! Sogar in seiner Zelle hat er einen Kühlschrank und einen Fernseher, bei uns im Klo tropft seit zehn Jahren die Leitung. Allein schon dafür gehört er hinter Gitter!

Aber sogar aus dem Gefängnis schreibt Chodorkowski Briefe und sorgt sich um die Zukunft. Wie ein Don Quixote! Der Hochmut, der ihn seit seiner Kindheit umgeben soll, er will einfach nicht von ihm abfallen. Als Teenager wurde er Tischler. Ergo: Immer wollte er nichts als Geld verdienen. Er hat drei Universitätsabschlüsse. Pfui! Genau darin besteht Chodorkowskis Problem: Es mangelt ihm an Faulheit, an oblomowschen Charakterzügen, an Gleichgültigkeit, an der Fähigkeit, durch Prüfungen hindurchzurasseln. Wer aber die Faulheit nicht kennt, gewinnt auch unsere Herzen nicht. Immerzu strahlen seine Augen, nie verdunkeln sie sich. Immer sind seine Haare ordentlich und sauber. Er sollte schmollen, sollte heulen wie ein Schlosshund, stattdessen schwebt er wie ein Cherubim in den Gerichtssaal und sagt: „Hallo, ich bin Mischa.“

Unsere Gefängnisse sind schreckliche, erniedrigende Orte. Unsere Gefängniswärter sind arme Leute, sie verdienen 100 Dollar im Monat. Warum um alles in der Welt also setzt dieser Kerl immerzu diese höfliche Miene auf, die im Totenhaus völlig unangebracht ist? Und erinnert ihr euch noch an diese Szene im Gerichtssaal, an sein Abschlussplädoyer? Da verbeugt sich der Kerl doch tatsächlich vor allen und bedankt sich bei seiner Frau und seinen Eltern.

Anfang des 20. Jahrhunderts beklagte sich der Schriftsteller Wasilij Rosanow darüber, dass man den Radikalen Tschernyschewskij nach Sibirien verbannt hatte, anstatt seine sprudelnde Energie für den Staat einzusetzen. Welch eine Verschwendung. Genau so ist es mit Chodorkowski. Andererseits: Was soll der Staatsanwalt mit Chodorkowskis Energie anfangen? Der Staatsanwalt lebt eher im Sinne des großen Konservativen Konstantin Leontjew, der einst forderte, man müsse Russland einfrieren, damit es nicht stinkt.

Was ist uns wichtiger? Computer oder Stalin? Die Frage ist rhetorisch. Es hat in Russland nie eine Krise des Liberalismus gegeben, und es wird sie auch nie geben. Weil es hier noch nie Liberalismus gab. Das Volk lässt das nicht zu, und jeder Dummkopf weiß das.

Es ist offensichtlich: Als Land werden wir scheitern, wenn wir Chodorkowski nicht als Held anzuerkennen lernen. Andererseits ist es besser zusammenzubrechen, als neu geboren und zu einer verlängerten Hirnwindung Chodorkowskis zu werden. Wir werden unsere Seele bis zum Tode verteidigen! Der Gerichtsprozess um unseren Helden ist kein politisches Theater, wie es unsere Intelligenzija glaubt. Es ist die Schlacht um Stalingrad. Keinen Schritt zurück! Man hat uns über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg so verkrümmt, dass jemand, der aufrecht geht, ohne die Hände zu Hilfe zu nehmen, uns wie eine Missgeburt vorkommt, wenn nicht gar wie ein Krimineller. Darin liegt vermutlich die traurige Moral der Geschichte des Michail Chodorkowski.

Es kursieren diverse Gerüchte, wer diese Geschichte verfasst hat. Manche schreiben seine Autorschaft dem russischen Präsidenten höchstpersönlich zu. Was für ein Unsinn! Der hat gar keine Zeit zum Schreiben: Er rettet doch Russland. Auf seine Art natürlich, aber retten tut er es doch. Er rettet es auf unsere Art! Im Kreml gibt es andere Schriftsteller. Talentierte Leute, die zu schreiben wissen. Warten wir auf die Fortsetzung des Romans.

Viktor Jerofejew ist einer der bekanntesten russischen Schriftsteller. Zuletzt erschien auf Deutsch „Der gute Stalin“. Dieser Text wurde erstmals in der Wochenzeitung „Moskowskije Nowosti“ gedruckt. Aus dem Russischen von Jens Mühling.

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