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Der Berliner Schriftsteller Michael Kleeberg

© Vivian J. Rheinheimer

Michael Kleebergs Roman „Dämmerung“: In den sozialen Medien gekreuzigt

Bilanz eines Lebens - und unserer betroffenheitstrunkenen Gegenwart: Der Berliner Schriftsteller hat einen dritten Karlmann-Band geschrieben. Ein Meisterwerk.

Von Erhard Schütz

Begonnen hatte die Geschichte von Karlmann „Charly“ Renn am 7. Juli 1985 vielversprechend, mit Boris Beckers Sieg in Wimbledon, Charlys Heirat und der Leitung eines Autohauses in Hamburg.

Dann der private Absturz 1989. Das las man 2007 in Michael Kleebergs Roman „Karlmann“. In dem Nachfolger „Vaterjahre“ hatte Karlmann einstweilen sein Familienglück gefunden und am 11. September 2001 das Handelshaus, für das er inzwischen arbeitete, vor dem Ruin gerettet.

Nun „Dämmerung“, der dritte Band der hochgelobten kulturanthropologischen Studie zu einem Männer- und Machertypus mit dem Programm „Eheglück, Kinder, Reisen, Freunde, Erfolg, Geld“.

Abschied des Erzählers

Zwar nicht Charlys Ende, aber das der Erzählung von ihm. Und auch Abschied des Erzählers, der den Protagonisten mal hautnah beobachtend, mal distanziert kommentierend begleitete. Sommer 2019. Charly lässt sich zu seinem sechzigsten Geburtstag feiern. Alle sind da, Familie, Freunde, Geschäfts- und Golfpartner. Nein, nicht alle, nicht seine von ihm getrennt lebende Frau Heike und nicht die erwachsenen Kinder.

Sein dementer Vater ist nurmehr als körperliche Hülle anwesend. Zum Höhepunkt ein Sängerwettstreit der Freunde Thomas und Kai, die sich im Lob des Jubilars überbieten. Dem Erzähler entgehen dabei keine Falten, Hängebacken und Hinfälligkeiten, nicht die Versuche aller, so jung zu bleiben, wie die Musik von damals.

Ihm entgehen nicht die Eitelkeiten, Aversionen und Missgeschicke im Umgang miteinander, etwa – eine fulminante Studie – die Betretenheit, vorübergehend in die Urteilsfalle eines schwadronierenden AfDlers geraten zu sein.

Bei aller Unnachsichtigkeit ist das indes keine Gesellschaftssatire, sondern eine letztlich tief anteilnehmende Bestandsaufnahme wie nur in Marcel Prousts wiedergefundener Zeit: Lemuren und zugleich Menschenwesen.

Mit dem Abschied von Charly wie vom Erzähler zeigt sich Michael Kleeberg auf dem Höhepunkt seiner Kunst, nämlich der dichten Verwebung von Individual-, Gesellschafts- und Zeitgeschichte. Ursprünglich an John Updike angelehnt, wurde sein Erzählen zunehmend inspiriert von Thomas Manns ironisch-freundlich distanzierter Figuren-Begleitung und essayistischen Abschweifungen ebenso wie von Marcel Prousts panoramatischem Gesellschafts-Tableau wie von dessen sezierendem Blick auf kleinste Details und reflexiv ausgreifenden Durchdringungen.

Dornröschenzeit der Pandemie

So erzählt der Roman sich nahe an die Gegenwart heran, führt anhand der originellen Ansichten von Charlys personal trainer Francesco Federhut durch die „Dornröschenzeit“ der Pandemie, führt vor, wie er von der jüngeren Generation aus der Firma hinauskomplimentiert wird, schildert – ergreifend – das Sterben des Vaters, das Abschiednehmen.

Lehrbrief zum Kulturmanagement

Die offizielle Trauerfeier im Oktober 2021 wird zu einem weiteren, präzise gestalteten Gesellschaftspanorama – Kirche und Politik im Fokus. Die Gestalt des gewesenen Ersten Bürgermeisters – man kann Klaus von Dohnany respektvoll porträtiert erkennen – ruft bei Charly „zum ersten Male überhaupt – ein Epochenbewusstsein“ wach, das Gefühl, „Teil eines Geschichtsmyzels“ zu sein.

Vielleicht darum sagt er zu, als man ihm die Leitung des zwischen selbstbezüglichem Kulturbetrieb und Sozialesoterik dahindümpelnden Lessinghauses anträgt. Im Frühjahr 2022 macht er sich voller Schwung daran, seine Erfahrungen aus der Wirtschaft auf die ihm so ferne Sphäre der Kultur zu übertragen. Umwerfend, wie der Betrieb mit den befremdeten Blicken Charlys (und auch des Erzählers) seziert wird, wie man sich dort mit hinhaltendem Widerstand zu fügen scheint, als Renn das Haus kurzerhand für geflüchtete Ukrainerinnen öffnet und eine Spendengala organisiert.

Die personellen, logistischen und kommunikativen Herausforderungen präsentiert der Roman so plastisch und zugleich spannend, dass man daraus einen Lehrbrief zum Kulturmanagement destillieren könnte, läge nicht gerade der Reiz in den je milieugeprägten Individualitäten der Akteure. Allen voran die taffe Yelda Dereli, vom Jahrgang 1987. Sie beeindruckt den notorischen Womanizer derart, dass er es beim Flirtmodus belässt, in dem beide sich auf Augenhöhe zu begegnen scheinen, um die gemeinsame Sache voranzubringen. Höhepunkt ist die von einem fein porträtierten Thomas Gottschalk moderierte Spendengala.

Deren Dynamik aus gesellschaftlichem Druck, Eitelkeit und von angewandter Kunst überwältigter Sentimentalität („Die Hornhaut des Geizes war im warmen duftigen Fußbad der Melodien weich geworden“) ist ein weiteres Paradestück des Romans. Und zugleich jener Gipfel, von dem Charly jäh herabgestürzt wird. Zwar bleibt alles uneindeutig, aber nun wird er in den sozialen Medien an seinem Y-Chromosom gekreuzigt.

Über die genauen Hergänge lässt der Erzähler uns im Unklaren. Nicht nur Karlmann, sondern auch sein Schatten, der Erzähler, entkoppelt sich von der bis dahin intensiv durchlebten Zeitgeschichte und Gesellschaft. Das Jetzt ist das ihre nicht mehr. Der Roman konterkariert so die Zeitgeist-Mode der Betroffenheitsrelevanz allein schon durch sein Gespür für die Physis der Dinge, der Gefühle und Gedanken, durch die Fähigkeit zu so großer Trauer und so großer Heiterkeit.

Wohl keiner der aktualaktivistischen Romane der letzten Jahre hat eine so tiefgehende Bilanz des Lebens, nicht nur das des Protagonisten, sondern schlechthin für unsere Gegenwart gezogen, aus tragischen und komischen, banalen und existentiellen Momenten eine so tiefe Lebensdurchdachtheit heraufbefördert.

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