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Der österreichische Schriftsteller Michael Köhlmeier

© picture alliance / dpa

Michael Köhlmeiers Roman "Matou": Ansichten eines Katers

Mammutbuch über die Vielfalt des literarischen Schreibens: Michael Köhlmeier erzählt in seinem großartigen Roman „Matou“ die Memoiren eines Katers.

Am Anfang rollen viele Köpfe. Der Rechtsanwalt, Politiker und Wortführer der Französischen Revolution, Camille Desmoulins, wird aufs Schafott geführt, weil er nicht aufhören wollte, den Terror seines ehemaligen Weggefährten und Jugendfreundes Maximilien Robespierre anzuprangern.

Noch bei seiner Verhaftung hatte sich Desmoulins selbstbewusst von seiner Frau Lucile verabschiedet, weil er meinte, die Ankläger von seiner Unschuld überzeugen zu können. Doch weil der Wohlfahrtsausschuss um die Wirkkraft seiner Rhetorik weiß, muss Camille sterben, genau wie Lucile, die sich über die Hinrichtung des Gatten beschwert hatte.

Auch andere Kritiker des Terrors, etwa Desmoulins Verbündeter Georges Danton, landen unter der Guillotine. Bei allem Blutvergießen immer dabei: der Kater Matou, der sich für die wortgewaltige Sprache der Menschen genauso interessiert wie für die Blutseen unter den Hinrichtungsstätten.

Katzen haben sieben Leben, heißt es im Volksmund, und im angelsächsischen Sprachraum dürfen die Vierbeiner sogar neunmal auf die Welt kommen. Der österreichische Schriftsteller Michael Köhlmeier hat diese Redeweise zum Konstruktionsprinzip seines neuen Romans „Matou“ gemacht. (Hanser, München 2021, 957 S., 34 €.)

In seinem zweiten Leben lernt Matou lesen und schreiben

Die Titelfigur ist auch der Erzähler, der im siebten Leben schließlich seine Memoiren schreibt, die wir mit Erstaunen und Erschrecken lesen. Köhlmeier hatte auf einem historischen Stahlstich, der eine Fallbeil-Szene zeigt, auch Hunde und Katzen entdeckt, die sich am Blut der Geköpften laben.

Ein Perspektivwechsel lag demnach nahe, zumal es in der Literaturgeschichte, insbesondere in der Märchenwelt, die Köhlmeier wie kaum ein anderer deutschsprachiger Schriftsteller kennt, einige Geschichten gibt, die aus tierischer Sicht vorgetragen werden.

In seinem zweiten Leben, im Hause von E.T.A. Hoffmann, lernt Matou lesen und schreiben. Das ist kein Zufall, immerhin verfasste der einflussreiche Schriftsteller die „Lebensansichten des Katers Murr“, die als Vorbild für Köhlmeiers Roman gelten können.

Während Murr der Welt seine Biografie hinterlässt, „damit sie lerne, wie man sich zum großen Kater bilde“, ist Köhlmeiers kleiner Angeber etwas weniger vom eigenen Genie überzeugt und dementsprechend neugieriger.

So verbindet Matou seine Anekdoten mit einer grundsätzlichen Recherche: Er möchte herausfinden, was den Menschen ausmacht. Die Antworten sind so schonungslos wie ernüchternd. In allen Lebensphasen wird der Kater mit Mord und Totschlag, mit seelischen und körperlichen Verletzungen konfrontiert.

In seinem dritten ist der Kater auf Hydra

Der Mensch tritt zwar gerne als Kulturwesen auf, das mit Katzen kuschelt, verhält sich aber immer auch als kaltblütiges Monster, wie Matou nicht nur in Zeiten der Guillotine, sondern auch im dritten Leben auf der Insel Hydra lernt: Ein Junge wird von einem Kater gekratzt, die Wunde entzündet sich, das Kind stirbt. Schon gibt es ein neues Feindbild!

Die Bewohner Hydras, die mal stolz waren, auf einer „Insel der Katzen“ zu wohnen, bewaffnen sich und schlachten die Tiere, die sie zuvor noch „gehätschelt und verwöhnt“ hatten. Matou überlebt das Inferno und gründet, auch zum Schutz der verbliebenen Artgenossen, einen autoritären Katzenstaat.

Zu den kuriosesten Passagen dieses an Kuriositäten keineswegs armen Romans gehören die Übergänge von einem zum nächsten Katzenleben. Das Zwischenreich der domestizierten Raubtiere heißt das „Weggemachte“, weil dort weggemacht ist, „was im Diesseits gezwickt, gezwackt, gejuckt und gezuckt hat“.

Dort verharren die Katzenseelen nur eine kurze Zeit, da sie in einem „Großen Katalog“ aussuchen können, wo und wann sie wiedergeboren werden.

Köhlmeier lässt seinen Kater noch unruhige Tage in Prag erleben, als der Erste Weltkrieg bevorsteht. Außerdem wird sich Matou mit schlimmsten Kolonialverbrechen in Afrika auseinandersetzen müssen.

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Manchmal ist kaum auszuhalten, wenn die grausamen Foltermethoden der Europäer beschrieben werden, etwa „das Abhacken von Händen und Füßen und das Auslöffeln von Augen, aber auch das Aufhängen eines Mannes an einem Fußzeh, das Auffädeln männlicher Geschlechtsteile an einem Draht über dem Eingang und das Aufspießen Hunderter Menschenköpfe auf die Zaunpfähle eines Forts.“

So ist es kein Wunder, dass nach den kolonialen Ungeheuerlichkeiten eine Rachefantasie folgt, in der sich Tier und Sklave gegen die belgischen Unterdrücker zusammentun.

„Matou“ ist ein Mammutbuch, das mit vielen Literaturgattungen spielt; es handelt sich sowohl um einen Bildungs- als auch um einen Abenteuerroman, historische und fantastische Elemente werden vermischt. Die fast 1000 eng bedruckten Seiten enthalten im Grunde mehrere Romane. Vermutlich wäre es angemessen, dieses auch inhaltsschwere Buch nicht nur in einer Rezension, sondern sieben Besprechungen vorzustellen.

Das sechste Leben: mit Andy Warhol

So vielschichtig die Themen, so zahlreich die Sprachformen, der Text zerfällt dennoch nicht in Einzelteile, ist vielmehr eine kunstvoll komponierte Einheit. Das liegt vor allem daran, dass Köhlmeier die sieben Grundgeschichten sowohl inhaltlich als auch ästhetisch miteinander verwebt.

Immer wieder tun sich neue Aspekte auf, was auch an den abgedruckten Literaturlisten liegt. Selbstverständlich gibt es in „Matou“ eine Übersicht mit wichtigen Werken, in denen Tiere die Hauptrolle spielen, von Orwells „Animal Farm“ bis Melvilles „Moby Dick“, über die Fabeln Aesops bis zu den Comics mit Donald Duck.

Diese Titel bilden mit zahlreichen Verweisen in der Binnenerzählung den kulturellen Echoraum dieses stilistisch in jeder Form beeindruckenden Romans. Gedichte und grafische Spielereien, Lieder und skurrile Abschweifungen wechseln sich mit lockerer Plauderprosa ab. „Matou“ enthält mal schnelle Dialoge, dann wieder reflektierende Passagen, denn die Titelfigur ist nicht nur ein Lästermaul, sondern auch Philosoph.

Was den Kater am Menschen besonders fasziniert, ist dessen Fähigkeit, sich zu verstellen, eine Lüge als Wahrheit aussehen zu lassen: „Ihr Menschen könnt so tun, als ob ihr liebt.“ Katzen hingegen, belehrt uns Matou, können sich nicht verstellen oder eine Rolle spielen.

„Ja, ich versuchte, auf menschliche Weise zu lachen. Ich versuchte, euer Weinen nachzuahmen. Aber meine Schnauze, meine Augen, meine Nase blieben genauso, wie sie waren.“ Matou begreift sich aber keineswegs als Mängelwesen, er versucht vielmehr zwei sehr unterschiedlichen Menschenphänomen auf die Schliche zu kommen, die Größe und Gefahr der Spezies ausmachen: Charme und Charisma.

Unterhaltsames Lehrstück

Matou möchte nämlich wissen, warum die eine Gabe ein „Geschenk“, die andere Eigenschaft erlernbar sei. Nun könnte man annehmen, dass Matou ein nächstes Leben beim schlimmsten Charismatiker aller Zeiten verbringen muss, aber so schlau sind sowohl der Kater als auch sein Erfinder, dass dieser Diktator, der vor dem Spiegel seine Auftritte zu verbessern versuchte und dessen Charisma-Training in Chaplins großem Film gebührend entlarvt wurde, weitgehend ignoriert wird.

Sein sechstes Leben verbringt Matou daher mit dem uncharmanten Charismatiker und Katzenliebhaber Andy Warhol. Diese Episode ist ein furioses Kunststück, weil es Werk und Leben Warhols in Form einer Popnovelle parodiert.

Ständig werden die Krawatten gewechselt, Matous neues Herrchen besucht immerfort Partys mit illustren Gästen wie Truman Capote, John Cale, Annie Leibovitz oder Robert Rauschenberg. Es geht um viel Geld, um Einnahmen aus sich ähnelnden Bilderzyklen, aber auch um mögliche Schulden beim Fiskus, der von republikanischen Warhol-Hassern unterwandert ist.

Katerlistiger Galgenhumor

Schließlich tritt die Radikalfeministin Valerie Solanas auf, die eine „Gesellschaft für das Abschlachten von Männern“ gegründet hat, sich von Warhol ungerecht behandelt fühlt und ihn niederschießt. Warhol überlebt den Anschlag und wird seine Narben später fotografieren, in „Matou“ schließt sich der Kreis zum Terror der Französischen Revolution.

Blutrot ist die Farbe des Romancovers, skeptisch schaut uns vom Titelbild eine Katze an, die Köhlmeiers Frau Monika Helfer gezeichnet hat. Nicht zum ersten Mal wird die Weltgeschichte als eine Abfolge von Blutbädern erzählt.

Die literarische Kunst Köhlmeiers besteht darin, mit Matous Memoiren eine Form gewählt zu haben, in dem das Grauen mit einer Art katerlistigem Galgenhumor ausgebreitet wird. Matou stimmt in seiner Autobiografie keine Wehklage an, sondern kann sich nach all den Bluträuschen immer noch über eine junge Frau amüsieren, die Warhol um ein Autogramm bittet, den Kater kurz auf ihren Arm nimmt, „eine Armlänge von ihrer Brust, als wäre ich aus Gold und Diamanten – oder würde ihr gleich den Mantel vollpissen“.

So ist ein erstaunlich unterhaltsames Lehrstück über die großen und kleinen Gemeinheiten der Menschen entstanden, über Höhepunkte sowie Niederungen der Kulturgeschichte – und nicht zuletzt ein grandioses Buch über die Vielfalt des literarischen Schreibens.

Carsten Otte

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