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Kultur: Mies van der Rohe: Elegantes Volksmöbel ohne Hinterbeine:In den 20er Jahren beginnt die Ära des Freischwingers

"Vom Stuhl bis zur Stadt" formulierte der holländische Architekt Jaap Bakema in den 60er Jahren kurz und bündig den Bereich seines Fachgebiets. Denn wie er haben sich alle bekannten Architekten sowohl mit dem Design von Stühlen als auch mit dem Entwerfen von Gebäuden und dem Städtebau beschäftigt.

"Vom Stuhl bis zur Stadt" formulierte der holländische Architekt Jaap Bakema in den 60er Jahren kurz und bündig den Bereich seines Fachgebiets. Denn wie er haben sich alle bekannten Architekten sowohl mit dem Design von Stühlen als auch mit dem Entwerfen von Gebäuden und dem Städtebau beschäftigt. Das trifft auch auf Ludwig Mies van der Rohe zu. In seinem Schaffen gibt es ein ideales Beispiel: Die Weißenhof-Siedlung in Stuttgart anlässlich der Werkbund-Ausstellung 1927. Mies hat in der von ihm städtebaulich gestalteten Siedlung nicht nur einen Mietshausblock entworfen, sondern dort auch zwei Wohnungen mit "seinen" Möbeln eingerichtet und damit seine Auffassung vom neuen Bauen und Wohnen der Öffentlichkeit präsentiert.

Die Einrichtung war sehr zurückhaltend. Die wenigen Möbel und die kahlen Wände haben damals wohl sehr nachdrücklich die Wende der Wohnkultur bezeugt. Neben hölzernen Thonetmöbeln und einigen Polstermöbeln konnten die Besucher in den Wohnungen auch die von ihm entworfenen Stahlrohrstühle antreffen. Im Wohnbereich war das Phänomen des Stahlrohrmöbels gerade erst zwei Jahre alt: 1925 hat Breuer seinen ersten Stahlrohrstuhl bei Junckers in Dessau gebastelt. Die Metallstühle von Mies waren vom Material her ein Novum, aber auch ihre Erscheinungsform war erstaunlich. Stellte der "Clubsessel" von Breuer eine Addition von Stahlrohrteilen dar, die im Aufbau an die hölzernen De Stijl-Möbel von Rietveld errinnerten, so war der Stuhl von Mies aus einer durchlaufenden Linie konzipiert - schlicht in der Form und ohne Hinterbeine. Sein Stuhl passte in das spärliche Interieur. Doch er war nicht das einzige Metallmöbel in der Austattung der Modell-Siedlung. Neben dem schon existierenden Stahlrohrmöbel von Breuer, haben auch Arthur Korn, Johannes J. P. Oud, die Gebrüder Rasch, Sybold van Ravesteyn und Mart Stam Metallmöbel für die Ausstellung entworfen.

Die meisten Entwürfe hatten jedoch die Möglichkeiten des Stahls als Baustoff noch nicht voll ausgeschöpft. Eine Ausnahme war der von Mart Stam entworfene Stuhl. Er stand - anstatt auf vier Füßen - mit Kufen auf dem Boden und hatte ebenfalls keine Hinterbeine. Mit der Verarbeitung von Stahl und der visuellen Verneinung des Gravitationsgesetzes begann mit dem hinterbeinlosen Stuhl (Kragstuhl, Freischwinger) das "Neusachliche Design".

Obwohl vom gleichen Entwurfsprinzip her kommend, waren die Stühle von Mies und Stam nicht identisch. Der vernickelte Stuhl von Mies zeigte halbrunde Vorderbeine und der Winkel des Sitzes mit der Rückenlehne betrug mehr als 90 Grad. Der dunkel lackierte Stuhl von Stam dagegen hatte eine kubische Form, gerade Vorderbeine und einen "Sitzwinkel" von exakt 90 Grad und wirkte damit strenger und sachlicher als der von Mies. Bei späteren Prozessen über das künstlerische Urheberrecht des hinterbeinlosen Stuhles haben die Richter das auch so gesehen.

Wer den hinterbeinlosen Stuhl erfunden hat, lag lange Zeit im Dunkeln. Denn Marcel Breuer hatte 1928 ebenfalls einen Freischwinger entworfen. Inzwischen gilt Mart Stam als der Erfinder dieses Prinzips. Denn er hat während der Vorbereitungen zur Weißenhof-Siedlung seinen Prototyp aus einem Gasrohr in Anwesenheit von Le Corbusier und Mies van der Rohe mit einem blauen Stift skizziert. Mies akzeptierte die Novität, fand aber den Prototyp zu hässlich und suchte nach einer eleganteren Lösung. So hatten die beiden Architekten jeweils einen Freischwinger entworfen. Stam war die kubische Form im Einklang mit seiner Architektur so wichtig, dass er, auch wenn sein Stuhl beim Probesitzen durchsackte, auf dem kleinem Rohrdurchmesser und dem gewählten Biegewinkel beharrte. Sein Stuhl musste mit Volleisenlagen verbessert werden, wurde schwer und federte nicht. Mies, der einen größeren Rohrdurchschnitt benutzte, hatte solche Probleme nicht.

Obwohl elegant, war der Stahlrohrstuhl von Mies als Volksmöbel gemeint. Darin liegt auch der Verkaufserfolg des Stuhls. Auch die Variationen, die Mies 1931 entworfen hat, änderten nichts daran.

Ein Mustervorbild der neuen Räumlichkeit schuf Mies mit seinem Pavillon für die Weltausstellung 1929 in Barcelona. Keine von Türen abgeschlossenen Räume, nur durch einzelnen Wände gegliedert, außen von Glas umgeben. Da das Gebäude der zeitlichen begrenzten Repräsentation diente, sollte auch die Einrichtung dementsprechend sein und war dem zu Folge minimal. Nur einige Sessel, Hocker und zwei Tische standen in dem beinahe sakralen Raum. Ihre Platzierung war nicht zufällig. Da der Raum unbegrenzt und fließend schien, wurden bestimmte Plätze durch Teppiche und Möbel markiert, womit der Raum einen ganz bestimmten Charakter erhalten hat. Solch wichtige Position der Möbel verlangt eine spezifische Lösung. Stahlrohrmöbel waren für diesen Zweck zu anonym und als Massenprodukte nicht geeignet. Mies ließ sich von der Geschichte inspirieren. Er wählte das Scherenprinzip als Ausgangspunkt seines Entwurfes für den Barcelona-Sessel: Aus Stahlband, chromiert, transparent, der Sitz "auskragend", was die optische Leichtigkeit fördert, die Kissen relativ flach. Mies vereinigte mit seinem Barcelona-Sessel die Modernität mit der Tradition, ohne historisierend zu sein. So wie der Pavillon eine einzigartige Architektur ist, ist der Sessel kein Serienprodukt, sondern ein Unikat, das für einem bestimmten Zweck entworfen wurde.

Beinahe gleichzeitig arbeitete Mies an dem Haus Tugenthat in Brünn. Mies entwarf für Tugenhat den so genannten Brno-Sessel, der zwar auch aus Flachstahl gebaut wurde, aber nicht auf dem Scherenprinzip beruhte, sondern auf dem hinterbeinlosen Prinzip. Daneben hat Mies einen weiteren Brno-Stuhl aus Stahlrohr für den Esstisch entworfen. Der Grund war einfach: Sein Stahlrohrstuhl mit Armlehnen aus dem Jahre 1927 konnte nicht unter den Tisch geschoben werden.

Mehr als 70 Jahre später sind seine Stühle immer noch oder wieder erhältlich. Der Stahlrohrstuhl von 1927 ist allerdings eine Neuausgabe, da es eine längere Unterbrechung bei der Herstellung gab. Der Barcelona-Sessel wurde nach dem Kriege, noch während Lebenszeiten von Mies wieder angefertigt, unter anderem für seine Gebäude.

Der Autor ist Dozent für Architekturgeschichte an der Technischen Universität Delft.

Otakar Macel

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