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Missbrauchsdebatte: Wie sollen wir erziehen?

Reformpädagogik und Erziehungswissenschaft: Anmerkungen zur aktuellen Missbrauchsdebatte.

In den letzten Wochen sind zahlreiche Fälle von sexuellem Missbrauch in pädagogischen Einrichtungen öffentlich geworden, die meist viele Jahre zurückliegen. Zunächst ging es vor allem um katholische Internatseinrichtungen, aber dann auch um ein reformpädagogisches Flaggschiff: die Odenwaldschule. In einer heftigen Diskussion wird nun zunehmend schärfer nicht nur nach der Verantwortung der Reformpädagogik gefragt, sondern auch nach den Versäumnissen der Erziehungswissenschaft.

Dabei geht es bei der Reformpädagogik um eine Programmrichtung, die als pädagogische Bewegung vor dem Ersten Weltkrieg entstanden ist. Die 1910 gegründete Odenwaldschule steht in dieser Tradition. Gemeint ist aber wohl auch die heutige Gemeinde der pädagogisch engagierten Reformer, die sich um eine kindgerechte Veränderung von Schule bemühen. Mit Erziehungswissenschaft bezeichnet man hingegen die akademische Disziplin, die sich forschend, lehrend und argumentierend mit Erziehungs- und Bildungsproblemen befasst, von der Frühpädagogik bis zur Erwachsenenbildung. Sie besteht in Deutschland aus etwa 3000 hauptberuflich Tätigen, die vor allem an den Universitäten arbeiten.

Nun werden in der Diskussion der Missbrauchsfälle immer wieder Parallelen zwischen der Reformpädagogik und der Katholischen Kirche gezogen: Auch das Gedankengut der Reformpädagogik trage „religiöse Züge“, auch sie habe „Pilgerstätten“ und „Priester“, wie „Die Zeit“ behauptet hat. Richtig ist wohl: Bei der Katholischen Kirche wie bei der Reformpädagogik gibt es ein Ideengebäude mit hohem moralischem Anspruch. Und genau dieser Anspruch wurde von den Akteuren – den jeweiligen „Priestern“ – in unglaublicher Weise zum Schaden der anvertrauten Schüler verletzt. In beiden Fällen wird berechtigterweise ein Schuldbekenntnis der Einrichtungen (und der Täter) verlangt.

Doch die Forderungen gehen weiter: Sowohl die Katholische Kirche als auch die Reformpädagogik soll überprüfen, ob in ihrem Programm nicht Elemente enthalten sind, die dem sexuellen Missbrauch Vorschub leisten. Bei den katholischen Schulen steht vor allem der Zölibat in der Kritik. Bei der Odenwaldschule wird nach der reformpädagogisch erwünschten Nähe zwischen Schülern und Lehrern, nach dem engen Zusammenleben in den „Familien“ des Internats gefragt.

Neben diesen Gemeinsamkeiten gibt es aber auch einen markanten Unterschied: Die Erziehungswissenschaft als zu kritisierende, möglicherweise mitschuldige Akteursgruppe kommt erst in den Blick, seitdem die Vorfälle in der Odenwaldschule bekannt sind. Wenn es hingegen um die Übergriffe in katholischen Schulen geht, wird sie gar nicht erwähnt, dafür scheint die Erziehungswissenschaft nicht zuständig zu sein.

Das hat mit einer öffentlichen Wahrnehmung zu tun, die Reformpädagogik und Erziehungswissenschaft nur zu leicht in eins setzt. Was wiederum historische Gründe haben mag, denn im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert haben sich Reformpädagogik und wissenschaftliche Pädagogik in engem Bezug zueinander entwickelt. Inzwischen sind daraus jedoch längst zwei sehr unterschiedliche institutionelle Felder geworden: pädagogische Bewegung hier, wissenschaftliche Disziplin dort.

Erst wenn man das sortiert hat, lässt sich genauer beantworten, wer sich angesichts der Missbrauchsfälle denn nun welcher Verantwortung zu stellen hat. Die Frage, was an der Odenwaldschule wirklich geschehen ist, wer in welcher Weise zur Rechenschaft zu ziehen ist, muss von der Odenwaldschule selbst geklärt werden. Hierzu ist das Schuldanerkenntnis, das der frühere Schulleiter Gerold Becker in der letzten Woche ausgesprochen hat, ein wichtiger Schritt. Geklärt werden muss dort auch, welche Formen gefunden werden können, um den Opfern wenigstens zum Teil Genugtuung und Entschädigung zukommen zu lassen. Und was die Aufklärungsarbeit betrifft, sollte dies – soweit noch möglich – gemeinsam mit Staatsanwaltschaft und Polizei geschehen.

Die Reformpädagogik wiederum muss sich mit der Frage befassen, ob es in reformpädagogischen Internaten Strukturen und Praktiken, vielleicht auch Ideologien gibt, die dazu beitragen, die Schranken zum sexuellen Übergriff abzubauen. Wie können Heranwachsende in Internatseinrichtungen möglichst schnell besser geschützt werden? Hier ist gegenwärtig vor allem die „Vereinigung Deutscher Landerziehungsheime“ angesprochen, in der die Diskussion längst angelaufen ist. Schon aus Gründen der Selbsterhaltung wird man sehr bald Maßnahmen wie etwa Frühwarnsysteme präsentieren, um vor allem die Eltern von der Qualität der schulischen Einrichtungen zu überzeugen.

Auch wenn die Odenwaldschule und die Landerziehungsheime ihrer jeweiligen Verantwortung gerecht werden, bleibt für die Erziehungswissenschaft immer noch genug zu tun. Weniger bei den kurzfristigen Maßnahmen als in längerfristig angelegten wissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit den Strukturen von pädagogischen Institutionen und den Handlungsformen von Pädagogen befassen.

Wodurch werden Übergriffe gegenüber Heranwachsenden begünstigt? Bisher haben sich Forschung und Präventionsarbeit zur sexuellen Gewalt auf die Familie konzentriert, sie muss sich künftig viel stärker auch mit den pädagogischen Institutionen befassen. Die damit verbundenen Fragen sind dann für alle pädagogischen Institutionen relevant, für staatliche wie für private, für katholische wie evangelische.

Außerdem bedarf die Geschichte der Reformpädagogik, die Geschichte der Internate einer erneuten kritischen Aufarbeitung. Haben sich pädophile Tendenzen, wie sie etwa bei Gustav Wyneken in den 1920er Jahren offensichtlich wurden, in den Landerziehungsheimen gehalten? Finden sie dort immer noch eine – vielleicht auch nur latente – Rechtfertigung? Tragen unklare Aussagen zum „pädagogischen Eros“ mit dazu bei? Nicht nur historische Werke, sondern auch aktuelle Schriften aus der reformpädagogischen Diskussion sind auf den Prüfstand zu stellen.

Zugleich muss die Erziehungswissenschaft einen Beitrag zur Lösung der konkreten Praxisprobleme bieten. Bisherige Konzepte etwa der Fortbildung des pädagogischen Personals, der Beratung, der Prävention und Hilfe sollten auf ihre Wirksamkeit (und ihre Mängel) untersucht werden, und zwar in allen Einrichtungen (vom Kindergarten bis zum Internat). Daran müsste sich eine erziehungswissenschaftlich gestützte Entwicklungsarbeit anschließen, die dazu führt, dass in immer mehr Institutionen eine wirksame Prävention stattfindet.

Schließlich muss der erziehungswissenschaftliche Diskurs auch darauf ausgerichtet sein, die Erträge der Reformpädagogik gegenüber undifferenzierten Angriffen oder gar „Verdammungen“ zu verteidigen. Denn dass eine gute Schule sich an dem Satz von Hartmut von Hentig „So viel Erfahrung wie möglich, so viel Belehrung wie nötig“ ausrichten sollte, bleibt genauso richtig wie die reformpädagogische Kritik an früher Selektion und schulischer Stofffülle. Kurz: Allen Versuchen, die reformpädagogischen Konzepte durch den Verweis auf die sexuellen Übergriffe dauerhaft zu beschädigen oder gar moralisch zu „erledigen“, muss widersprochen werden. Hier ist es die Aufgabe der Erziehungswissenschaft, auch angesichts einer turbulenten öffentlichen Debatte auf Rationalität im Diskurs zu bestehen.

Angesichts der bekannt gewordenen Vorfälle kann man kritisieren, dass auch die Erziehungswissenschaft sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten nicht genügend mit den Problemen der Gewaltausübung in pädagogischen Institutionen befasst hat. Hier war die erziehungswissenschaftliche Zunft offensichtlich nicht sensibler, nicht klüger als die Gesellschaft insgesamt. Jetzt sollte sie vieles daransetzen, um diese Probleme aufzuarbeiten. So hat die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft etwa eine Expertenkommission eingesetzt, die im Spätherbst ein öffentliches Symposion zum Thema „Sexueller Missbrauch in pädagogischen Institutionen“ veranstalten wird.

Klaus-Jürgen Tillmann ist emeritierter Professor für Schulpädagogik an der Universität Bielefeld. Er war Nachfolger Hartmut von Hentigs als Leiter der Laborschule Bielefeld und bis vor kurzem im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, die letzte Woche tagte.

Klaus-Jürgen Tillmann

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