zum Hauptinhalt

Missbrauchsskandal: Kind, Kirche, Dorf

Der Missbrauchsskandal bei den Katholiken zeigt, wie naiv das Reden über Kinder und Sexualität ist.

Von Caroline Fetscher

In einem hat die Katholische Kirche recht: Sexueller Missbrauch von Kindern kommt mindestens ebenso häufig in Familien und in der Nachbarschaft vor wie beim Klerus. Als Appell, diese Kirche bitteschön im Dorf zu lassen, taugt die statistische Aufrechnung allerdings so wenig, wie jeder andere Verweis im Tenor eines „bei denen ist es auch nicht besser!“ Und als hätten die Bischöfe dafür gebetet, fährt auch noch die evangelische Ratsvorsitzende alkoholisiert über eine rote Ampel. Auch dort schwarze Schafe!

Westliche, demokratische Gesellschaften öffnen erst allmählich die Augen dafür, wie und wo der bisher historisch noch so kurze Diskurs um Kinder und Sexualität verläuft. Er flammte erstmals Ende des 19. Jahrhunderts mit Sigmund Freud auf. Als Freud empörter Protest entgegenschlug, revidierte er 1905 seine These. Die Aussagen von Patienten zu inzestuösen Erwachsenen waren zwar nicht mehr aus der Welt zu schaffen, wurden aber fortan ins Reich der Fantasiefabrikation der Kinder relegiert. Mit einem Wort: Das Kind war nun zwar sexualisiert, zugleich aber Urheber des Ungeheuerlichen.

Bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus änderte sich wenig an der mit neuer Leugnungsenergie aufgeladenen Auffassung vom Kind als eines zügellosen wie rechtlosen Subjektes, das es zu disziplinieren gelte. Wahrscheinlich ist nirgends erschütternder bebildert worden, wie deformierend protestantischer Terror gegen Kinder wirkte, als in Michael Hanekes subtilem filmischen Meisterwerk über schwarze Pädagogik. „Das weiße Band“ schildert in Szenarien vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs wie Sadismus gegen Kinder in allen Schichten Alltag waren.

Wider die selbstbestimmte Sexualität – eine der wirksamsten Quellen für Lebenslust und Selbstbewusstsein – sind Protestanten ebenso zu Felde gezogen, wie Katholiken, und dazu bedurfte es keineswegs an erster Stelle der Institutionen. In den Nestern der Familie, hinter zugezogenen Gardinen und dichten Rollläden, in Betten und Badewannen findet bis heute die psychische Verstümmelung des Nachwuchses statt, bei der allzu oft Verbote und Übergriffe eine toxische Verbindung eingehen. Abertausende Väter und nicht selten auch frustrierte Mütter, agieren ihre Bedürfnisse nach Macht, Geltung, Erregung und Nähe am Körper des Kindes aus. Für viele Praktiken in den Familien gab es Gottes Segen – und aus Familien, woher sonst, rekrutieren Institutionen ihr Personal.

Jeder Erzieher, jeder Priester, jede Nonne – alle sind sie groß geworden in der Familie, die Thomas Bernhard treffend als „die engste aller Provinzen“ bezeichnet hat. Die still tolerierte transgenerationelle Traumatisierung erfuhr ihren ersten Bruch Ende der sechziger Jahre mit der von Bischof Mixa nun als Auslöser des aktuellen Dilemmas bezeichneten „sexuellen Revolution“. Wie fixiert auch progressive Positionen auf die ausbeuterischen Bedürfnisse Erwachsener sein konnten, wie sich die perverse Logik der Elterngeneration einfach umstülpen ließ, das bewies eine Kampagne der Grünen zur „freien“ Sexualität mit Kindern, die „das“ doch selber wollen. Verzerrt hallte 1985 das Echo von 1905 nach: Einmal mehr war das sexualisierte Kind Urheber des Geschehens. Zum Glück führte die Kampagne ins Nichts. Irgendwie, das wurde immerhin erkannt, würde die Befreiung so nicht funktionieren. In der Folge entstand der pädagogische Diskurs um „Grenzen“, die Kindern zu setzen seien, parallel zum therapeutischen Diskurs um die angebliche „Hilflosigkeit“ erwachsener Täter, nicht etwa um deren Kriminalität.

Da sind wir also heute. Neue Gesetze wurden verabschiedet, zuletzt im Dezember 2000 mit Paragraph 1631 Abs. 2 BGB zur gewaltfreien Erziehung, eine sogenannte lex imperfecta, die keine unmittelbaren Rechtsfolgen vorsieht. In Elternhäusern, Schulen, Kirchen, Kommunen und Gemeinden ist es bis heute oft reiner Zufall, ob Gesetze zum Kinderschutz gekannt und voll angewendet werden oder nicht.

Es ist oft auch Glückssache, ob es eine Telefonhotline gibt oder nicht, ob Lehrer oder Jugendämter hinsehen wollen oder nicht. Sogar ob Kinderpornografie im Internet gesperrt werden darf oder nicht, ist, trotz neuer Gesetzeslage, keineswegs ausgemacht. Kaum zu glauben: Es gibt in Deutschland noch immer keine bundesweite Hotline zum Kinderschutz.

Stattdessen gibt es ein zufälliges Puzzle aus lokalen oder regionalen Initiativen, Ämtern und Vereinen. Sollen die gegenwärtigen Skandale effektive, kompromisslos am Kindeswohl orientierte Wirkung haben, muss eine zentrale bundesweite Institution verantwortlicher Ansprechpartner wie Jugendämtern, Ärztekammern, und Krankenkassen geschaffen werden. Sie bräuchte eine bundesweite Rufnummer für ein Netzwerk, das in jedem Bundesland Anwälte, Therapeuten, Ärzte und Schutzunterkünfte anbieten kann. Damit würde unsere Demokratie den Willen demonstrieren, ihre Gesetze ernst zu nehmen, sich von einem ihrer ungesündesten Tabus zu verabschieden – und von tolerierter Kriminalität.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false