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Kultur: Mit blutigen Pfoten

Generationenporträt und Thriller: Jörg Albrechts „Beim Anblick des Bildes vom Wolf“.

Erst siehst du das Bild, und dann kommt der Wolf: Wer die Verfilmung von Michael Endes „Unendlicher Geschichte“ kennt, weiß genau, worauf der Titel von Jörg Albrechts neuem Roman anspielt. Auf die Szene, in der Atréju mit einer Reihe von Wandgemälden konfrontiert wird, die sämtliche Stationen seiner bisherigen Reise zeigen. Das letzte Bild zeigt einen Wolf, der durch ein aufgesprengtes Loch in der Mauer schaut. Und dann, in der nächsten Filmszene, ist der Wolf schon da, und zwar genau so, wie das Bild ihn zeigte.

Die visuelle Projektion ist immer schneller als die Realität, soll das heißen Und im Jahr 2012 sieht das dann zum Beispiel so aus: Noch bevor du von der Party nach Hause kommst, haben bei Facebook schon mindestens drei Freunde Partypics kommentiert, auf denen du zu sehen bist.

Mit diesem „Angeblicktwerden als körperliche Höchstanstrengung“ kämpfen die prekären Kulturschaffenden in Jörg Albrechts Großstadt- und Generationenroman tagtäglich. Thies, Wanda, Jonte, Pelle und Jasper sind Anfang dreißig, „geboren wenige Wochen nach MTV“, und irgendwann aus der Provinz nach Berlin gezogen. Da sind sie nun, „kreativ und frei und kurz davor, es zu packen, das Glück“ – oder zumindest wollen sie das von sich glauben. Obwohl oder gerade weil „die Arbeit nie nach Arbeit aussehen darf, nur nach Spaß“, arbeiten sie allesamt ununterbrochen. Beim Frühstück, im Fitnessstudio (am eigenen Körper), beim Sitzen in der Kneipe (am Networking), im Club (am eigenen Image) und sogar im Schlaf (selbst Träume sind künstlerisch verwertbar).

Dem „Red-Carpet-Trend“ ist nicht zu entkommen, nicht in den Innenstädten, wo überall Überwachungskameras lauern, nicht auf der Party, wo Fashionblogger ihre iPhones schwenken, und erst recht nicht im Internet. Alle sehen sich immer auch von außen, selbst wenn gerade niemand hinschaut. Konsequenterweise ist das Medium der Wahl, das die Freunde in einem – natürlich unbezahlten – Projekt zusammenbringt, ein Film, genauer gesagt: Jaspers Diplomfilm. Es soll darin um Werwölfe in der Großstadt gehen, um das Gefräßige der Großstadt an sich, letztendlich natürlich um das Böse in uns allen.

Nach und nach schleicht sich ein – möglicherweise realer, möglicherweise imaginierter oder inszenierter – Krimiplot in die Erzählung. An Häuserwänden werden Spuren von blutigen Pfoten gefunden. Film- und Echtzeithandlung verschwimmen, während der Killer bis zuletzt flüchtig bleibt.

Auch formal widersetzt sich „Beim Anblick des Bildes vom Wolf“ der klassischen Romanstruktur. Ständige Perspektivwechsel, Vor- und Rückblenden, Exkurse über diverse Werwolffilme, Interviewschnipsel und Dialogfetzen, deren Sprecher häufig nicht einmal gekennzeichnet sind, erzeugen ein eigenwilliges, so rohes wie lyrisches Textgebilde. Es ist also nicht so einfach, „Beim Anblick des Wolfes“ zu lesen. Der Roman stellt auf diese Weise aber perfekt das zerrissene, rhythmuslose Lebensgefühl der prekär lebenden Kreativen dar.

Wie schon in seinem 2006 veröffentlichten Debütroman „Drei Herzen“ berauscht sich Jörg Albrecht an einem fragmentarischen, treibenden Stil, der einem das ständige Unter-Strom-Stehen seiner Protagonisten ins Hirn peitscht, ihr Zergrübeln und Intellektualisieren aller Dinge, durchbrochen von explosionsartigen Rauschzuständen in Form von Hormonausschüttungen, künstlich induzierten Substanzen oder künstlerischer Inspiration. Ständig pulsiert der Beat in Stroboskopgeschwindigkeit.

Der Grundton ist dennoch elegisch. Obwohl ständig in Bewegung, sind Albrechts Figuren allein oder auf der Suche und meist geplagt von inneren Zerwürfnissen. Hier und da entspinnen sich sexuelle Begegnungen oder sogar Romanzen – aber immer schön auf Abstand, immer schön cool („Let me be your Entspannungsprogramm“). Gleichzeitig steckt tief in den Figuren eine große Sehnsucht nach der einen großen Liebe.

Natürlich könnte man diese eloquent geschliffene Melancholie unter „Jammern auf hohem Niveau“ verbuchen. Schließlich sind da immer noch die Mittelklasse-Eltern im Hintergrund, ohne deren in Nine-to-five-Ödnis erarbeiteten Finanzspritzen es die „Freiheit“ der Generation der heute Dreißigjähirgen gar nicht gäbe. Und natürlich ist das Buch als reine Zeitgeistdiagnose nicht wirklich originell. Lamenti über das „Rumhängen als Kulturarbeit“ kennt man schließlich aus Büchern à la „Wir nennen es Arbeit“ von Holm Friebe und Sascha Lobo, aus der „Jungle World“-Kolumne „Prekär & depressiv“ oder aus Songs der Berliner Musikerin Christiane Rösinger. Etwas weniger Jammern über den „Kiezschlussverkauf“, etwas weniger Hipster-Bashing, etwas weniger Globalisierungs- und Kapitalismuskritik hätte „Beim Anblick des Bildes vom Wolf“ ganz gutgetan. Stellenweise scheint es, als würde Albrecht akribisch Punkt für Punkt abarbeiten, was es derzeit in Berlin an negativer Entwicklung zu beklagen gibt, inklusive der Kritik an der Kritik: „Hipster, deren Hipness darin besteht, sich über zu viel Hipness zu beschweren“. Ach ja, ich, du, Berlin und seine Hipster, das scheint sich zu einer never ending story zu entwickeln.

Dabei käme gerade dieser Roman mit seiner feinen Figurenpsychologie, seinem eigenwilligen Sprachstil und seinem wunderbar melancholischen Grundton auch ohne übermäßig zeitgeistkritische Töne aus – und könnte vielleicht sogar in zehn oder zwanzig Jahren noch gelesen werden, ohne von seiner Kraft eingebüßt zu haben.

Jörg Albrecht:

Beim Anblick des

Bildes vom Wolf.

Roman. Wallstein,

Göttingen 2012.

262 Seiten, 19,90 €.

Anja Kümmel

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