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Aus der DDR nach Bayern zugezogen. Der Schriftsteller und Lyriker Reiner Kunze in seinem Oberzeller Garten.

© picture alliance / dpa/Armin Weigel

Mit den Lippen Wörter schälen: Der Dichter Reiner Kunze wird 90

Lakonischer nie: Zum runden Geburtstag zeigt ein Band mit gesammelten Gedichten, was diesen deutsch-deutschen Schriftsteller ausmacht

Von Gregor Dotzauer

Seinem Dichterkollegen Marian Nakitsch gilt er als „Handlanger der Stille“. Andere entdecken in seiner Poesie eine „Rhetorik des Schweigens“.  Und auch Reiner Kunze selbst weiß, wie kostbar jeder Vers ist. „Gern setze ich mich zum taubstummmen, mit den lippen / wörter schälen“, heißt es in seinem drei Jahre nach der Ausreise aus der DDR 1980 geschriebenen Gedicht „Dimension“. „Zuhören kann fast nur noch der taube // Er will verstehen / Und nur der stumme auch weiß, was es heißt, / vergebens ums wort zu ringen.“

Knapper, reduzierter, dürrer, mit einigen überraschend aufblühenden Bildern im ausgetrockneten Gelände, geht es in der deutschsprachigen Lyrik der erweiterten Gegenwart nirgends zu. Das ist sicher eine Frage des Temperaments und der Herkunft. Als 1933 im erzgebirgischen Oelsnitz geborener Sohn eines Bergarbeiters hat er oft beschrieben, wie maulfaul es in seiner Kindheit zuging, ohne dass es an Herzlichkeit gefehlt hätte.

Kassiber als zweite Natur

Es ist aber auch ein Modus des Sprechens, der mit jedem Wort aufs Neue erprobt, was sich sagen lässt, das zugleich verstanden wird und keine Missverständnisse auslöst. Kritiker haben dafür den Begriff des Kassibers verwendet, also die heimlich aus der Isolation geschmuggelte Botschaft, deren realsozialistisch hochtrainierte Finesse ihm zur zweiten Natur wurde.

Dabei wollte er von politischer Dichtung an sich nie etwas wissen. Weder zu der Zeit, als in dem einstigen DDR-Musterschüler, dem der SED-Eintritt zum Abitur verhalf, die Zweifel am Regime wuchsen und er sich während des Journalistikstudiums am „Roten Kloster“ in Leipzig mit seinen Ausbildern überwarf; noch in seiner neuen bayerischen Heimat Obernzell-Erlau bei Passau, wo er Kritik an seinem Land endlich ungehindert hätte aussprechen können. Was 1968 nach dem Einmarsch russischer Truppen in Prag mit seinem Parteiaustritt begann, mündete 1976 in den Ausschluss aus dem Schriftstellerverband: Im Frankfurter S. Fischer Verlag hatte er mit „Die wunderbaren Jahre“ ein Buch veröffentlicht, das in prägnanten Prosaszenen die ideologischen Abrichtungsverfahren der DDR schilderte.

Kunze, in Gesprächen und Essays ein Mann der klaren Worte, wollte zumindest die Poesie vor Instrumentalisierung schützen. Politisches akzeptierte er nur, insofern es sich unmittelbar existenziell niederschlug. Er blieb allerdings ein leichter Verbündeter für die „Fleisch- und Wehrwölfe des nackten Antikommunismus“, wie Heinrich Böll in seiner Laudatio zum Georg-Büchner-Preis 1977 diejenigen nannten, die Kunze vor allem wegen seiner Biografie umarmten. Böll, der durch seine Freundschaft mit Lew Kopelew eine Ahnung vom Ausmaß der realsozialistischen Repression hatte, unterhielt anders als andere Teile der westdeutschen Linken kein blauäugiges Verhältnis zur DDR und konnte deshalb den Dichter als  „im Einbaum versteckt zwischen den brüllenden Propagandaflotten“ preisen.

Im Namen von Franz Josef Strauß

Bis zum heutigen Tag steht Kunze allerdings in Verbindung zu jenen erzkonservativen Kreisen, für die etwa die Hanns-Seidel-Stiftung steht, die ihm 2015 den Franz-Josef-Strauß-Preis zuerkannte. In seinen politischen Einlassungen zu Asyl oder Scharia lässt sich das auch durchaus nachvollziehen. Als lange Stasiverfolgtem mag man ihm, einem Mann von altmodischer Lauterkeit, diese Nähe allerdings ungern vorwerfen, zumal ihn die parallel zu seiner Ausreise einsetzenden Anfeindungen von links schwer getroffen haben. Bedächtig, selbstkritisch und undemagogisch, wie er ist, sollte man ihm eher zugutehalten, dass er mit der Reiner und Elisabeth Kunze Stiftung mit Hilfe von Tausenden gesammelter Dokumente die Erinnerung an Widerstand und Dissidenz in der DDR wachhalten will.

Zu seinem 90. Geburtstag präsentiert nun ein schöner kleiner Leinenband sein poetisches Gesamtwerk – abzüglich einiger früher Gedichte, die er nicht mehr gelten lässt. Man kann darin den Naturlyriker in der Tradition von Peter Huchel und Johannes Bobrowski entdecken, den Sentenzenschmied, der Bertolt Brecht nicht loswurde, den Liebeslyriker und den Bewunderer und Dialogpartner tschechischer Dichtung, die ihm seine Frau Elisabeth nahebrachte: Auch als Übersetzer etwa des wunderbaren Jan Skácel hat Kunze enorme Verdienste.

Die Sammlung offenbart aber auch einen kulturkonservativen Geist, der etwa in „Junge Motorradfahrer“ (1983) klagt: „Auch durch euch / ertaube ich / an dieser zeit // Im leerlauf vollgas“. Er geht mit Smartphones ins Gericht und lauscht einem „Konzert mit Werken des 21. Jahrhunderts“ (2006): „Uns war vergönnt zu leben / nach dem jahrtausenderauschen / vor der musik // Doch unüberhörbar schon / das rauschen / nach der musik“. Kunzes poetisch vielfach bezeugte Liebe zur Musik von Mozart oder Dvořák in Ehren: Im Gedicht als einem Ort, der Kunzes eigenem Verständnis nach das schlichte Urteil scheut, haben solche Bemerkungen nichts verloren.

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