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Die Magierin Parvati (Shriya Saran) ist auch ein Mitternachtskind.

© Concorde

Mitternachtskinder: Krieg und Karma

Magischer Realismus: Die indisch-kanadische Regisseurin Deepa Mehta hat „Mitternachtskinder“ verfilmt, Salman Rushdies großen Roman über die Geburtsstunde Indiens.

Als Indien am 15. August 1947 aus britischer Kolonialherrschaft entlassen wurde, kamen in der Mitternachtsstunde unter grandiosem Feuerwerkstrubel magisch begabte Kinder zur Welt. Den indischen Göttergestalten gleich vereinigen sie die leidenschaftlich gestimmten Eigenschaften aller Menschen in sich, sie spiegeln das Schicksal aller Kasten und Klassen und funken mit ihren telepathischen Kräften grell, plastisch, bunt in den Schicksalslauf des indischen Subkontinents hinein.

Mehr noch: In jener Nacht vertauscht eine Krankenschwester den neugeborenen Jungen einer reichen muslimischen Familie mit dem Baby eines hinduistischen Vagabundenpaars. „Arm werde reich, reich werde arm“, so will sie den indischen Zukunftstraum ihres kommunistischen Freundes wahrmachen. Fortan lebt der sensible Saleem (Satya Bhabha) in der Pflege der von ihrem schlechten Gewissen geplagten Nurse (Seema Biswas) als verwöhnter Spross in einer viktorianischen Villa, die seine Eltern in Bombay von einem Briten übernommen haben. Seinem von Neid und Ehrgeiz zerfressenen Schicksalsgenossen Shiva (Siddharth), dem vertauschten Mitternachtskind, bleibt nur die Straße. In der magischen Parallelgesellschaft der Mitternachtskinder treffen sie bei nächtlichen Traumkonferenzen indes immer wieder aufeinander. Und sie verlieben sich beide in die schöne Hexe Parvati (Shriya Saran).

Salman Rushdies 1981 erschienener Roman „Mitternachtskinder“ schien auf eine Verfilmung durch die indisch-kanadische Regisseurin Deepa Mehta förmlich gewartet zu haben. In jedem ihrer Filme sucht sie mit ganzer Seele ihre Sehnsuchtsheimat Indien, offen für Widersprüche, kritisch gegenüber tradierten Kasten- und Geschlechterbildern, unbeeindruckt von Genrekonventionen à la Bollywood. Salman Rushdie schrieb selbst das Drehbuch, eine über vier Generationen erzählte Familiensaga. Dabei weiß Deepa Mehta das gute alte Stereotyp einer Verwechslungsgeschichte mit immer neuen fabulösen Wendungen zu nutzen, um den schwierigen Weg des indischen Subkontinents in die Demokratie zu schildern und die Teilungskriege um Pakistan und Bangladesch sowie die Folgen von Indira Ghandis „Familien-Diktatur“ wie in einem Prisma einzufangen – als Bewährungsproben für den unschuldigen Saleem.

Liebevoll rekonstruierte historische Szenenbilder, eine psychologisch subtile, eher „westliche“ Schauspielerinszenierung und die feine Handkameraarbeit der Breitwandbilder halten eine schöne Balance. Ein realistisches Figurenensemble wird von den fabelhaften Mitternachtskindern begleitet, kommentiert von Rushdies subtil ironischer Off-Erzählung. Einprägsame Allegorien auf Arm und Reich, Gut und Böse, List und Grausamkeit, Magie und Realitätssinn mischen im fantastisch-wirklichkeitsnahen Kosmos dieser Geschichte mit.

Als der Schwindel um die vertauschten Babys auffliegt und Saleem als Stammhalter von seinem gekränkten Vater verstoßen wird, verkehren sich Glück und Leid, alte und neue Macht abermals. Der Zauberzirkel um die schöne Hexe Parvati hilft dem reinen Tor Saleem am Ende trotz aller Karma-Zumutungen, seine Ziehmutter, die Nurse Mary, wiederzufinden und mit Parvatis Kind eine utopische Familie neuen Typs zu gründen.

Kino in der Kulturbrauerei

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