zum Hauptinhalt

Kultur: Moby Dünn

„Lieber nicht“: Kult-Regisseur Christoph Marthaler spielt an der Berliner Volksbühne die Totalverweigerung

Das gibt es nur bei Marthaler – wie sich das Bühnengeschehen aufs Schönste und Genaueste im Publikum widerspiegelt. Einer schnarcht, etliche dösen, ein paar Zuschauer werden von krampfhaften Lachanfällen geschüttelt, die Mehrzahl aber starrt nach vorn und harrt der Dinge, die da kommen, oder auch nicht. Und da stellen sich merkwürdige Gedanken ein. Würde man, mit einem Elektroenzephalogramm verkabelt, Marthalers neue Volksbühnen-Kreation „Lieber nicht“ durchwachen, ergäbe sich ein mysteriöses Schnarch-Bild. Nach einer halben Stunde flachen die Gehirnströme dramatisch ab, man ist schon schwer erschöpft. Nach einer Stunde nehmen die Aktivitäten des Hirns wieder sprunghaft zu, weil man sich überlegt, ob es nicht doch schwer genial ist, was die Musiker und Schauspieler auf der weiten, loftartigen Bühne von Anna Viebrock anstellen, oder eben nicht. Es folgt eine lange Phase schweren Genervtseins, man wähnt sich gefangen in einer schweizerischen Folter, schließlich erreicht man den Endzustand vollständiger Selbstaufgabe: Christoph Marthaler hat gewonnen. Ein schrecklicher Sieg der Trägheit.

Herman Melvilles erratische Erzählung „Bartleby, der Schreiber“ war einmal Ausgangspunkt dieser gnadenlosen Meditation. Bartleby, eine der sonderbarsten Figuren der Weltliteratur, erblickte 1856 das Licht der Welt, wenige Jahre nach „Moby Dick“, der Melville erst posthum berühmt machen sollte. Bartleby, blasser und tödlich schweigsamer Kopist in einer New Yorker Anwaltskanzlei, erscheint wie der kleine Zwillingsbruder des irren Waljägers Ahab. Beide gehen mit exemplarischer Radikalität zugrunde: der Kapitän pflügt durch die Meere, getrieben von einer biblischen Wut auf die Kreatur, der Schreiber hockt an seinem Pult, verweigert Arbeit, Nahrung und Auskunft über seine Person mit dem unerschütterlichen Ausspruch „Ich würde vorziehen, es nicht zu tun“ (I would prefer not to). Sein oder nicht sein? Bartleby – ohne Hamlet’sche Umschweife – sagt nicht sein, starrt die hohen Wände der Wall Street an, kommt als asoziales Element ins Gefängnis, erlischt wie eine Kerze.

Christoph Marthaler hat es nun vorgezogen, auf jeden direkten Bartleby-Hinweis zu verzichten. Geblieben ist der vage Titel „Lieber nicht“, mit dem mysteriösen Zusatz „Eine Ausdünnung“. Man kann das wörtlich nehmen: Marthaler erzählt keine Geschichte, er geizt mit Gags, und seine vier spindeldürren Klavierspieler klimpern auf verstimmten Instrumenten Bach, Schumann oder Liszt („Am Grabe Richard Wagners“) mit starrer Inbrunst falsch und durcheinander, wie bei der Basler Fastnacht. Hinten, im Bürobereich (so viel „Bartleby“ soll doch sein) hacken Schauspieler auf alten mechanischen Schreibmaschinen den Rhythmus des Ravelschen „Bolero“ – und den Hochzeitsmarsch aus „Lohengrin“. Man fragt lieber nicht, warum. Warum die traurigen Pianisten von zwei altmodischen, noch traurigeren, in ihr unbekanntes Schicksal ergebenen Schuhverkäuferinnen (Susanne Düllmann, Heide Kipp) hellblaue Schuhe angezogen bekommen. Warum alle dicke Brillen tragen. Warum alles so schäbig und abgestorben sein muss. Warum die Zeit nicht vergeht . . .

Harte Marthaler-Fans werden jubilieren: Der Meister scheint ganz bei sich. Keine Spur mehr von der albernen Gefälligkeit der letzten Zeit. Mit „Lieber nicht“ eröffnet die Volksbühne ihre dicken „Marthaler-Festwochen“ – mit einem Rest-Spiel; es folgen zum Wiedersehen die legendären Inszenierungen von „Murx“ und „Kasimir und Karoline“.

Es beginnt wunderschauerlich schön: Im Halbdunkel setzen nach und nach die Klaviere ein, wie von Geisterhand angeschlagen. Und es endet finster-behaglich, zart: Sie hauchen ein Lied aus dem amerikanischen Bürgerkrieg aus, Just Before the Battle, Mother. Geschrieben hat das um das Jahr 1862 George Frederick Root, ein in der Nordstaatenarmee populärer Komponist patriotisch-sakraler Melodien. Das Lied weht wie ein fernes Leitmotiv durch zweieinhalb Stunden „Lieber nicht“, durch die Marthalersche Ewigkeit, in der sich die Begräbnisgesellschaft mit dem Zerklimpern der amerikanichen und der britischen Nationalhymne grimmig bei Laune hält. Äußert sich hier vielleicht ein hilfloser, verstummender Protest gegen die angloamerikanischen Kriegsherrn? Aber das wäre auch dünn, furchtbar dünn.

Das Makabre der Marthalerschen Endzeitstimmung ist, dass er sie mit seinen musikalisch-szenischen Arrangements zu jeder Zeit und an jedem Ort, demnächst auch in Bayreuth, aus seinem Material herausquält. Liegt in der „Ausdünnung“ das Eingeständnis, dass der Meister müde ist, unsagbar stumm geworden wie jener Bartleby? Wollte Marthaler die Stimmung der schwebend-schwerblütigen Melville-Story, die mit dem Ausruf „Ach, Bartleby! Ach, Menschheit!“ schließt, auf weiten Umwegen, sozusagen am ausgestreckten Arm ergreifen?

Die Schauspieler scheinen eine drückende, unsichtbare Last mit sich herumzuschleppen. Wenn Matthias Matschke und Alexander Scheer, die siamesischen Trauer-Klöße, doch einmal eine kleine Slapstick-Nummer riskieren, nehmen sie sich auch sogleich wieder zurück, zeigen Leichenbittermiene, zucken mit den Schulten; lieber nicht!? Ulrich Voß, der alte Volksbühnen-Riese, läuft mit herrischen Gesten ins Leere. Winfried Wagner macht seine Buster-Keaton-Miene zum durchschaubaren Nullsummenspiel.

Eine Quälerei. Ein großes Nichts. „Le petit rien“, das kleine Nichts, hat Christoph Marthaler vor zehn Jahren schon mit Shakespeares „Sturm“ an der Volksbühne durchexerziert. Selige Zeiten: Damals schliefen die Schauspieler, die Zuschauer waren hellwach. Seither hat man sich mit Marthaler in Zürich, Berlin und anderswo durch die Welt- und Theatergeschichte geträumt. In seinen somnambulen Orgien hat Marthaler so viel Energie und Fantasie verströmt, dass er zu einem heiligen Helden des Theaterbetriebs wurde. Dieses Lieber nicht gab es dabei immer schon – und dann kam so viel. Jetzt hängen die Marthaler-Menschen an der Wand, über dem Flügel, und nichts passiert. Die Konsequenz wäre nicht eine neue Inszenierung des Nichts, sondern Nicht-Inszenieren. Oder soll man das alles nicht so ernst nehmen?

Wieder am 20. und 21. April .

Rüdiger Schaper

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false