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Modiano-Roman "Aus tiefstem Vergessen": Das Spiel mit den Rätseln

Leser, sagte Peter Bichsel einmal, sind "Leute, die mit Fragen umgehen können, ohne gleich nach der Antwort zu rufen: in Fragen leben, nicht in Antworten." Die Prosa des französischen Autors Patrick Modiano verfährt ähnlich: Fragen motivieren den eigenwillig musikalischen Rhythmus seiner Sprache, und sie müssen nicht unbedingt beantwortet werden.

Leser, sagte Peter Bichsel einmal, sind "Leute, die mit Fragen umgehen können, ohne gleich nach der Antwort zu rufen: in Fragen leben, nicht in Antworten." Die Prosa des französischen Autors Patrick Modiano verfährt ähnlich: Fragen motivieren den eigenwillig musikalischen Rhythmus seiner Sprache, und sie müssen nicht unbedingt beantwortet werden. Es reicht, sie gestellt zu haben. Modiano hat seine Lieblingsfragen. Viele seiner Fragen betreffen die Besatzung Frankreichs durch die Nazideutschen zur Zeit des zweiten Weltkrieges.

Am liebsten begibt sich Modiano auf Spurensuche, so in "Dora Bruder", seinem Buch um die Identität eines 15jährigen Mädchens, das 1942 nach Drancy deportiert wurde. Da geschieht weit mehr als der Versuch, ein Stück Lebensgeschichte zu recherchieren, nur um es vor dem Vergessen zu bewahren.

"Aus tiefstem Vergessen" fördert eine sanfte Liebesgeschichte zwischen Zwanzigjährigen im Paris und London der Sechziger Jahre zu Tage. Auch hier ist der Textstrom nicht allein vom Wunsch getrieben, Erinnernswertes festzuhalten. Die Transformation in die Vergangenheit ist erzählerisch so ausnahmslos gelungen, dass die Klammer der Gegenwart nurmehr dramaturgisches Beiwerk ist: Dreißig Jahre später gelingt dem Protagonisten der Sprung ins Zeitloch mühelos und selbstverständlich.

Diese wunderbar unaufdringliche Art zu erinnern, was als einziger Zeitabschnitt zwischen vielen Jahren "toter Zeit" herausstach, "vielleicht, weil es in der Schwebe geblieben war", spiegelt sich in der Beziehung zweier Menschen wieder. Und vielleicht ist das schönste an diesem Roman, dass er knapp an gängigen Liebesgeschichten vorbeigeschrieben ist. Wie in "Vorraum der Kindheit" löst ein Wiedersehen des einst vertrauten Menschen den Erinnerungsprozess aus. Modiano setzt es ans Ende, wagt dann erst eine vorsichtige Verknüpfung zum erinnerten Lebensabschnitt.

Modiano beschreibt eine Existenzform: Stagnation statt Streben. Nur ein Traum vom anderen Leben, ausgerechnet auf Mallorca, hält dieses Leben aufrecht - mehr gönnt Modiano seinen Figuren nicht. Als der Ich-Erzähler auf Jacqueline trifft, ist er mit Büchern bepackt, geht täglich seine Runden, um sie in Antiquariaten zu verkaufen.

"Hausierer" könnte er sich nennen. Jacqueline spricht ihn auf der Straße an, zusammen mit ihrem Begleiter Van Bever, ein unbestimmtes Paar. An den Wochenenden fahren sie aus der Stadt, um zu spielen. Jacqueline ist chronisch erkältet, schnüffelt Äther, trägt die immer gleiche, viel zu dünne Lederjacke. Treffpunkt sind ein Café, die Hotelzimmer der beiden, ein bestimmter Platz. Es wird viel geschwiegen und gewartet, Grenadine getrunken. Unbestimmtheit als Lebensstil. Modiano geht es um diesen seltsam schwebenden Zustand, in dem sich Menschen im Übergang befinden, und er braucht dazu weder Gedanken über die Gesellschaft noch lange innere Monologe. Seine Skizze ereignet sich durch Gesten und anscheinend belanglose Sätze. Zum Beispiel die Fragen des Ich-Erzählers, mit denen er die Gesetze seiner Umgebung zu ergründen sucht: Ob Jacqueline und Van Bever auf ihn warten werden? Ob er ihnen nicht doch gleichgültig geworden ist? Erst allmählich wird deutlich, daß diese Fragen um ihrer selbst willen da sind. Sie sollen Unsicherheit attestieren. Die - nie beantwortete - Frage als Symptom. Man hat sich noch nicht orientiert.

Dazu gehört auch das Bedürfnis, zu jedem Zeitpunkt ausbrechen zu können, die Geschichte einfach zu verlassen. Der Ich-Erzähler hat sich eigens dazu ein Notizbuch angelegt, in dem alle Gebäude mit doppelten Ausgängen verzeichnet sind. Er trifft Verabredungen, "zu denen ich dann nicht hinging", oder er nutzte "die kurze Unaufmerksamkeit einer Person, neben der ich auf der Straße herging", einfach um sie "im Stich zu lassen." Auf diese Weise entschlüpft der Erzähler auch seinem gegenwärtigen Leben. Und wenn er am Ende der gealteterten Jacqueline auf einer Party wiederbegegnet, gelingt in einem wunderbaren Dialog erneut dieser Schwebezustand, den er seine Figuren leben ließ: Erkennt sie ihn nach all den Jahren? Die Liebe ereignet sich in diesem schönen Roman mehr nebenbei, aber um so leuchtender. Als Abbild der erzählerischen Laune, die mit dem "Kontrast von Schatten und Licht" spielt, das diesen Lebensabschnitt charakterisiert.

Patrick Modiano: Aus tiefstem Vergessen. Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser Verlag, München 2000. 160 S., 19,80 DM.

Anja Hirsch

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