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Kultur: Montags links oben: Die Überwindung

Sehr geehrter Doktor Lecter! Viele Menschen hierzulande haben etwas gegen Sie.

Sehr geehrter Doktor Lecter! Viele Menschen hierzulande haben etwas gegen Sie. Das wird Sie nicht wundern. Wahrscheinlich wird es Ihnen gleichgültig sein. Vielleicht wird es Sie ein bisschen lächeln lassen. Die Menschen, die hierzulande etwas gegen Sie haben, behaupten, sie hätten etwas gegen Sie, weil Sie gefährlich nein, genauer: gefährdend sind. Gefährlich könnten Sie nur sein, wenn Sie sich wirklich durch unsere Reihen äßen. Aber für gefährdend kann man auch einen halten, der von der Leinwand oder zwei Buchdeckeln gewissermaßen prinzipiell maulkorbisiert ist.

Immer, wenn die Menschen etwas für gefährdend halten, halten sie es in erster Linie für jugendgefährdend. Und in der Tat. Ihr Rat - Kinder, probiert öfter mal was Neues! - hätte Gefahr in deutsche Erziehungsstuben tragen können. Nicht auszudenken der Verrohungsschub, wenn unsere Jugend durch Sie auf den Hirngeschmack gekommen und in der Folge, anstatt sich weiter auf den Schulhöfen die Eingeweide blutig zu treten, ans Lobotomisieren gegangen wäre.

Doch obwohl die Menschen, die hierzulande etwas gegen Sie haben, die Gefahr der Gefährdung erfolgreich von unserer Jugend abgewendet haben, sind sie noch nicht restlos beruhigt. Denn die Jugend ist ja nicht das Einzige, was gefährdbar ist. Was ist mit all den anderen Verwirrten, Verirrten und sonstwie Gestörten, die hierzulande herumlaufen? Könnte ja sein, dass Sie den Recklinghausener Tiefkühlkostfahrer, der schon immer heimlich davon geträumt hat, einer seiner Kundinnen das Ohr wegzubeißen, dazu inspirieren, es eines schönen Mittwoch vormittags zu tun. Schade, dass es analog zum Führerschein für Kampfhundhalter noch keinen Führerschein für Kinogänger gibt: Schlitz- und Hirnschnitzfilme nur noch für die mit bestandenem Psychotest. Vielleicht würde das die Menschen hierzulande wirklich beruhigen. Vielleicht auch nicht. Denn die Beunruhigung, die von Ihnen ausgeht, sitzt tiefer. Es ist nicht Ihre Vorliebe für Menschenfleisch allein, die manchem hierzulande schlaflose Gremiensitzungen bereitet. Es ist Ihre Vorliebe für Menschenfleisch in Kombination mit Ihrer Vorliebe für Musik, Kunst, Literatur, teuer geschnittene Anzüge, delikate Umgangsformen und noch delikateres Essen - also Ihre Vorliebe für alles, was uns Abendländern lieb und teuer ist. In höchster Formvollendung führen Sie den Beunruhigten vor, dass Grausamkeit der 1970er Château Pétrus ist, der zu diesem Abendland und seiner Zivilisation gereicht gehört. Ihre Brillanz und Gnadenlosigkeit lassen den christlich geprägten Humanismus, den die Beunruhigten ausschenken wollen, bestenfalls als Liebfrauenmilch erscheinen.

Entgegen der öffentlichen Geräusche beunruhigen Sie nicht, weil Sie "sinnlos" morden. Denn Sie morden nicht nur mit Sinn: Sie morden mit Verstand. Und Prinzip. Bei Ihnen kommt erst die Moral. Und dann das Fressen. Sie bestrafen die Habgierigen, Verlogenen, Hässlichen, Unhöflichen, Feigen, Geschmacklosen, kurz: alle charakterlichen, ästhetischen und intellektuellen Mängelexemplare, die unsere Spezies hervorbringt. Noch kürzer: 99, 99 Prozent der Menschheit.

Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll. Sie tun, wovon Nietzsche nur zu schreiben gewagt hat. Sie erschrecken die Beunruhigten nicht, weil Sie keine Moral haben. Sie erschrecken, weil Sie eine Moral der Vornehmheit, der Stärke haben. Der Mensch, der nicht beständig an seiner Überwindung, sprich: Perfektionierung arbeitet, rückt für Sie in die Nähe tierischen Futtermittels. Neu ist das nicht. Aber noch nie haben wir es mit solchem Charisma auf einer Leinwand gesehen. Erstaunlich, dass noch keiner von den Beunruhigten auf die Idee gekommen ist, dass es gar nicht verpickelte Zehnt-Klässler oder verwirrte Recklinghausener Tiefkühlkostfahrer sind, die durch Sie in Gefährdungsgefahr geraten könnten. Sondern viel eher die deutschen Dichter und Denker. Denn was wäre, wenn einer unserer Vorzeigepoeten durch Sie begreift, dass es von der Überwindung des Menschlich-Allzumenschlichen mit den Mitteln der Schrift zur Überwindung des Menschlich-Allzumenschlichen mit den Mitteln der Chirurgie nur ein kleiner und ziemlich konsequenter Schritt ist? Doch wahrscheinlich haben die Beunruhigten recht damit, dass sie diese Frage noch nicht als neuen Quell der Beunruhigung entdeckt haben. Denn deutsche Dichter und Denker gehen ja nicht ins Kino.

In diesem Sinne grüßt Sie hochachtungsvoll Ihre T. D.

Am nächsten Montag: Else Buschheuer.

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