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Kultur: Mord ist Sport

Heimspiel, Endspiel: Die Kult-Gruppe „ZT Hollandia“ nimmt Abschied von Berlin

Der Beginn ist fulminant: Ein Schauspieler, hoch im Rang, trommelt zu Klängen von Heiner Goebbels virtuos auf einem Haufen alter Zeitungen. Es staubt, staubt immer mehr, bis man im Zuschauerraum fast erstickt. Graue Wolken, Mehltau der Geschichte.

Sonst staubt hier gar nichts. Die Produktion „Fall der Götter“ nach Luchino Viscontis Spielfilm von 1969 ist seit der Premiere 1999 ein Exportschlager der niederländischen Theatergruppe „ZT Hollandia“ und frisch wie eh und je. Nun wird sie, als Gastspiel im Hebbel-Theater, zum Berliner Kehraus der legendären Gruppe, die sich nach fast 20 Jahren demnächst auflöst. Der Komponist Paul Koek verlässt die Truppe 2004, um das von ihm gegründete „Veenstudio“ weiterzuführen. Und der Gründungsdirektor und Regisseur Johan Simons übergibt den Stab im August 2005 an Matthijs Rümke. Der Name „ZT Hollandia“ wird nicht übernommen.

Der Auftritt in Berlin ist ein Heimspiel, in vielerlei Hinsicht. Nicht nur, weil alle Mitglieder der Theatergruppe inzwischen hervorragend Deutsch können und ohne Übersetzungsverlust agieren. Viscontis Spätwerk, lange vergessen, war gerade auch Thema einer anspruchsvollen Ausstellung im Berliner Filmmuseum. Und die Zeit rund um die Machtergreifung hatte „ZT Hollandia“ schon im Soloabend „Gelöschter Kalk“ über den Reichstags-Brandstifter Marinus van der Lubbe eindrucksvoll thematisiert.

Nun also „Fall der Götter“, das Porträt einer deutschen Industriellenfamilie im Nationalsozialismus, angelehnt an die Lebensläufe der Krupp-Dynastie. Auch die Familienverhältnisse derer von Essenbeck sind verwickelt. Es versammeln sich zum Familienfest: der greise Familienpatriarch, der um seinen gefallenen ältesten Sohn trauert. Dessen Ehefrau, die sich mit dem Verwalter der Firma zusammentut. Der Sohn, der das eifersüchtig beobachtet. Der zweite Bruder, ein überzeugter SA-Mann. Dessen Sohn, der später zur SS überwechseln wird. Und der dritte Bruder, der Widerständler, mit Frau und Tochter. Dazu noch ein Cousin des Patriarchen, als SS-Mann Bote der neuen, bösen Zeit und heimlicher Strippenzieher.

Wer es schon bei Visconti nicht verstanden hat, wird in der Theaterfassung vollends den Überblick verlieren. Denn „ZT Hollandia“ besetzt doppelt, und zwar gegen den Strich. Also den Familienpatriarchen, den Emporkömmling und den eifersüchtigen Sohn mit dem gleichen Schauspieler – Jeroen Willems, dem Star der Truppe –, ebenso den SA-Mann und den Widerständler (Fedja van Huet) oder die verfolgte Ehefrau und die wie Lady Macbeth agierende Intrigantin (Elsie de Brauw). Alle sind eins, nur ein an- oder abgelegtes Jackett, ein Hut oder der schlurfende Gang genügen zur Differenzierung. Was wie eine Notlösung klingt, ist ein kluger Theatertrick, denn durch den Rollentausch wird deutlich, was auch Visconti diagnostizierte: dass es kaum Unterschiede zwischen Gut und Böse gibt in dieser Zeit, kurz nach der Hitlerschen Machtergreifung, und dass im Kern alle schon verdorben sind.

Doch nicht nur die virtuose Verwandlungstechnik ist die Stärke des Abends. Auch nicht, dass „ZT Hollandia“ den Essenbecks drei Dienerinnen an die Seite stellt, die – immerhin bildet ein Drehbuch die Textgrundlage – Ortsangaben, Verhaltensanweisungen oder Tempoermahnungen geben und die unwilligen Schauspieler damit auf Trab halten: ein einfacher, sehr komischer Verfremdungstrick. Vor allem zeigt „ZT Hollandia“, dank der Beweglichkeit der Schauspieler, die Verführungskraft und Erotik der Macht. Besonders die drei Hauptdarsteller sind von bestürzender Präsenz, egal, ob sie den perversen Firmenerben, den bemühten Geschäftsführer, den schwachen Widerständler oder den bulligen SA-Mann geben. Mord ist für sie nur Sport, Politik nur Spiel. Einzig Peter Paul Muller als der im Hintergrund wirkende SS-Mann Aschenbach – und auch das ist wohl Konzept – wirkt blass. Und doch tanzen alle nach seiner Pfeife.

Kurz vor Schluss geht die Welt in einer wilden, unglaublich virtuosen Zwei-Mann-Orgie unter, in Dauerregen und kaltem, lieblosem Sex. Wenn es „ZT Hollandia“ einst nicht mehr gibt, steht noch viel mehr im Regen.

Noch einmal heute, 19.30 Uhr, im Hebbel-Theater (Hau 1)

Christina Tilmann

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