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Kultur: Musik für Bergetappen

Vordenker der Techno-Kultur: Die deutsche Band Kraftwerk veröffentlicht nach 17 Jahren ein neues Album - und vertont die Tour der Leiden

Es gab einmal eine Zeit, da war die Zukunft etwas, das noch nicht geschehen war. Es lag vor uns, irgendwo da draußen. Dann begannen Wissenschaftler und Künstler, sich vermehrt Gedanken über die Zukunft zu machen. Sie entwickelten Vorstellungen, die so detailliert vorhersagten, wie es bald auf der Welt aussehen könnte, dass sie schon gegenwärtig wirkten. So perfekt und allumfassend wurden diese Bilderwelten, dass wir begannen, in der Zukunft zu leben. Auto mussten aussehen wie Raumschiffe, Turnschuhe wie Roboterfüße. Das Gebrauchsdesign der Gegenwart enthält mehr Science-Fiction als eine „Star Treck“-Folge - auch wenn durch die digitalen Simulationen der Unterhaltungsindustrie beinah der Eindruck entstehen könnte, wir lebten im Futur II und hätten die Zukunft schon hinter uns.

1968 war das Zeitgefüge noch halbwegs in Ordnung. Als die beiden Musikstudenten Ralf Hütter und Florian Schneider, 21 und 22, sich unter dem Namen „Organisation“ zusammentaten, konnten sie auch nicht wissen, was vor ihnen lag. Vom Futurismus waren sie wohl nur in soweit infiziert, als sie nach neuen Klängen suchten. Aber das taten viele. Der Arztsohn Hütter spielte Orgel, Florian Schneider, dessen Vater als Architekt unter anderem das Mannesmann-Gebäude in Düsseldorf und den Flughafen Köln-Bonn gestaltete, Flöte und Violine. Zeitzeugen erzählen, wie sich die Band von frei improvisiertem Latin-Jazz-Rock zu mystischen Klängen vorarbeitete, wie sie von Pink Floyd oder Tangerine Dream aufeinander geschichtet wurden. Schneider hat sogar mal auf einer Platte von Klaus Doldinger mitgespielt.

Vieles davon verliert sich im gnädigen Nebel der Vergangenheit. Aber vermutlich stand jeder, der zu dieser Zeit in Düsseldorf einen Fuß vor die Tür setzte, mittelbar unter dem Einfluss von Joseph Beuys, der erklärte, dass man sich nur trauen müsse. Hütter, Schneider und ihre wechselnden Mitstreiter sahen sich als Performance-Künstler. Sie traten gern in Kunsthochschulen auf. Doch lange Zeit waren die Einflüsse von Konstruktivismus, Bauhaus oder russischen Futuristen wie Majakowski in ihrer Musik nur ansatzweise spürbar. Selbst auf ihrem ersten großen Hit „Autobahn“, 1974 entstanden, weht der Fahrtwind noch eine lyrische Querflöte herein. Und Mut hatten sie: 1973, als weite Teile Europas noch hippifiziert waren, sieht man Hütter bereits mit Schlips und akkurat gezogenem Scheitel. 1975 besangen sie scheinbar naiv die Vorzüge der „Radioaktivität“ und bei „Trans Europa Express“ ließen sie sich Schwarzweiß mit Vierzigerjahre-Patina ablichten, trugen Anzüge wie Konfirmanden und setzten sich an einen Tisch mit rotweiß-karierter Decke. Sah das Wald-Idyll nicht irgendwie verstrahlt aus?

Autobahn und Fahrradfahren

Trotz aller Ironie: Kraftwerk wurden in deutschen Feuilletons unter Faschismus-Verdacht genommen. Doch sie legten ungerührt das Album „Die Mensch-Maschine“ nach, dessen erstes Stück, „Die Roboter“– zu Zeiten des Kalten Krieges – auch die russischen Zeilen „Ya tvoy sluga, ya tvoy rabotnik “ enthielt. „Ich bin dein Diener, ich bin dein Arbeiter“. Kraftwerk stilisierten sich nicht mehr bloß als Musik-Beamte, die ihren Dienst nahezu regungslos versahen, sie ließen sich auf der Bühne von Roboterpuppen vertreten.

Willst du was gelten, mach dich selten. Die beharrliche Weigerung der Band, sich den Ritualen des Marketings zu fügen, hat zur Mythisierung geführt. Über ihr Privatleben ist fast nichts bekannt. Ralf Hütter und Florian Schneider können wohl einigermaßen stressfrei zum Bäcker gehen. Auch die prozessumrankten Buchveröffentlichungen des Ex-Mitglieds Wolfgang Flür („Ich war ein Roboter“) oder Interviews des ebenfalls ausgeschiedenen Karl Bartos (der im September ein Album veröffentlicht) haben daran nicht viel geändert. Bis gestern galt die Nachricht von einem neuen Album als running joke.

Aber sie haben es wirklich getan. „Tour De France Soundtracks“ (EMI) baut zwar auf einem alten Stück auf. Doch was die Kraftwerker ihm an Neubearbeitung angedeihen ließen, verdient – neben den sieben neuen Stücken – nicht nur Respekt vor ihrer historischen Bedeutung. Auch wenn man ihre gelegentlich behauptete „168-Stunden-Woche“ als Scherz verstehen mag – sie haben bis zum Schluss an den Schallwellen gefeilt. Das Frequenzspektrum ist deutlich in den Tiefbassbereich ausgeweitet und fordert von guten Stereoanlagen ordentliche Hubleistungen. Geschmackvoll austariert ist jeder Synthie-Sound, jeder Filterverlauf.

Natürlich ist die Veröffentlichung – immerhin der erste größere Wurf in 17 Jahren – mit Erwartungen überfrachtet. Was hätte man sich von der Projektionsmaschine Kraftwerk nicht alles wünschen können: Kommentare zum globalen Kapitalverkehr oder zur modernen Kriegspropaganda, vielleicht. Aber abgesehen von einer Textänderung bei „Radioaktivität“ haben Kraftwerk sich nie politisch geäußert. Hütter und Schneider haben sich nun ganz ihrer Neigung zum Radsport hingegeben. Die CD ist mit wie ein Zahn-Ritzel gestaltet. Akribisch zählen die Texte die für das mechanische Funktionieren des menschlichen Körpers notwendigen Substanzen auf („Kalium Kalzium/Eisen Magnesium/Mineral Biotin/Zink Selen L-Carnitin“). Im Booklet finden sich Diagramme von Laktatmessungen und Höhenangaben von Bergetappen. Handwerklich und ästhetisch läuft alles rund, makellos. Und die vier Etappen von „Tour de France“, die wie ein Mix ineinander laufen, eignen sich gut zum Radfahren. Aber: Es überrascht nicht wirklich.

Im Zahnritzel der Zeit

„Wir spielen Studio“, sagten Kraftwerk schon in den Siebzigern – und nahmen damit die modernen Produktionsbedingungen vorweg. Ohne Kraftwerk würde Popmusik heute anders klingen. In der Heimat kritisch beäugt, landeten sie in ihrer 15 Jahre währenden, kreativsten Besetzung mit Wolfgang Flür und Karl Bartos nicht nur international einen Hit nach dem anderen. Kraftwerk zeigten sich als „Arbeiter der Stirn“ (Hütter), die ihr „Kling Klang“-Studio auf stets dem neuesten Stand der Technik hielten und mit selbstkonstruierten Instrumenten und Effekt-Geräten ein bis dahin ungehörtes Sound-Universum entwarfen. Sie öffneten eine Tür für die Musik der folgenden Jahrzehnte. In New York entdeckte ein Discjockey mit dem Namen Afrika Bambaataa „Trans Europa Express“, „eine der irrsinnigsten und besten Platten“, die er je gehört hatte. Diese vier arischen Roboter, die kaum einen Muskel bewegten, begeisterten ihn so sehr, dass er die Platte bei seinen DJ-Sets zu einem Endlos- Mix verlängerte. Das daraus entstandene Stück „Planet Rock“ gilt heute gemeinhin als Initialzündung des Techno. Dutzende Elektro-Pop-Projekte bedienten sich mehr oder weniger ungeniert bei Kraftwerk. Kaum ein Musiker, der sie nicht als Einfluss nennt. Doch sind sie nicht die Rolling Stones. Sie gehen nicht bis zur Rente auf Tournee.

So trat nach „Electric Café“ (1986) Stille ein. Anfang der Neunzigerjahre veröffentlichten sie lediglich „The Mix“, eine Reihe brillanter Neufassungen. Und es war schon beinahe grotesk zu sehen, wie das Berliner Publikum bei einem der raren Konzerte ausflippte, weil an Stelle der Roboter die leibhaftigen Kraftwerker an die Bedienpulte traten. Dann gab es noch den üppig honorierten Jingle für die EXPO 2000. Ansonsten: Schweigen.

Sind Kraftwerk von der Zeit, von ihren Epigonen überholt worden? Das wohl nicht – auch wenn die Technik heute kaum jemanden mehr Staunen macht, weil die nötige Software längst auf einen Aldi-PC passt. Keine gegenwärtige Techno-Produktion, geschweige denn das Kirmes-Geballer bei der Love-Parade, erreicht annähernd das Niveau dieser kristallklar gefrästen Keyboardflächen, dieser abgestuften Räumlichkeit, dieser messgenau knallenden Bass-Drum. Trotzdem scheint es, als fehle ihnen diesmal die Lust zur Provokation. Immerhin: Die freiwillige Mechanisierung des menschlichen Körpers ist eine der bestimmenden Tendenzen der Pop-Kultur. Insofern sind Kraftwerk mit ihrer „industriellen Volksmusik“ in der Gegenwart angekommen.

Ralph Geisenhanslüke

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