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Kultur: Musik in Berlin: Stück vom Paradies

Die Weltformel-Forscher gucken verlegen: Ihre neuesten Berechnungen funktionieren nur, wenn man den Faktor Zeit ausklammert. Vorbei die Vorstellung von Geburt und möglichem Tod des Universums.

Die Weltformel-Forscher gucken verlegen: Ihre neuesten Berechnungen funktionieren nur, wenn man den Faktor Zeit ausklammert. Vorbei die Vorstellung von Geburt und möglichem Tod des Universums. Es ist einfach. Und noch nie erschien es uns so unwirtlich. Die Forscher versuchen ein Lächeln, während mit jeder Sekunde unsere Zeit verstricht. Der Tod ist mächtig im Konzert, das Michael Gielen beim Berliner Sinfonie-Orchester dirigiert, und verbindet in stiller Größe Kompositionen von Reger, Mahler und Birtwistle. Obwohl der Abend im Rahmen des Konzerthaus-Themas "Farbe, Form, Figur" erklingt, streicht kein grausamer Schnitter durchs Parkett. Gielen gelingt es vielmehr eindrucksvoll, die Unabhängigkeit der Musik von ihren Vorbildern der bildenden Kunst zu unterstreichen. Mit souveräner Ruhe entrollt er Max Regers Tondichtungen nach Arnold Böcklin und trennt mit parteiischer Hand mildes Licht von stumpfer Dunkelheit. So gewinnt die "Toteninsel" die Qualitäten eines Aquarells und verliert Takt um Takt den Firn des Ölschinkens. Einzig beim "Bacchanal" erweist sich Gielens gemäßigtes Pathos als Hemmschuh - doch wirft man einen Blick auf das Böcklin-Bild vom Saufgelage, muss man ihm auch hier für seinen klaren Kopf dankbar sein.

In Cornelia Kallisch findet Gielen seine ideale Interpretin für Gustav Mahlers "Kindertotenlieder", folgt sie doch genau seinem Weg, weder naturalistische Klangbilder zu pinseln, noch durch Theatralik den Anschein gewaltiger Schreckensvisionen zu erzeugen. Ihre natürliche, scheinbar kunstlos geführte Alt-Stimme erfüllt das Mahler-Gebot der Naivität, die für ihn keinesfalls Beschränkung, sondern einen höheren Blick auf das Leben und das ersehnte Paradies birgt. Selten hat man mit seinen "Kindertotenliedern" weiter schauen können - und erschauert dabei. Danach friert man bei Harrison Birtwistles "The Triumph of Time" nur noch. Seine überdehnten Harmonien lassen genau jenen Raum entstehen, der uns nicht braucht: das All. Darin schabt und zittert etwas, wie ein Astronaut in seinem Raumanzug, der ohne Halt ins Nichts fliegt. Von der Zeit eingeholt, sterbend.

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