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Hauskonzert aus der Philharmonie: Igor Levit spielt Beethoven beim Musikfest.

© Monika Karczmarczyk/Berliner Festspiele

Musikfest Berlin 2020: Die Stille vor dem Glück

Auftakt der Konzertsaison unter Pandemie-Bedingungen: Igor Levit eröffnet mit Beethoven das Musikfest in der Philharmonie.

Man wagt kaum zu atmen, so still war es noch nie. Kein Räuspern, kein Rascheln, kein Husten in der Philharmonie. Igor Levit kauert über den Tasten, um dem Steinway ein noch leiseres Pianissimo abzuringen, im zweiten Satz von Beethovens Waldstein-Sonate, der Introduzione. Sie bringt selbst die letzte Regung zum Erliegen: zerlegte Musik, nur noch einzelne Töne, weite Räume – ein Vorblick auf Anton Webern.

Dann nähert sie sich scheu aus der Ferne, die hymnische Melodie des Rondos, die in den puren Überschwang mündet und in flirrende Freude, bis zum kurzen, trotzigen Schluss. Halt auf freier Strecke: Leben, sagt dieses Finale, ist ein Wahnwitz, etwas, das einen ereilt.

Beim Verlassen des Saals reden die Leute über diese unerhörte Passage. Wobei man nur Gesprächsfetzen auf der Treppe vernimmt; die Besucher sollen sich ja nicht aufhalten in den Foyers, Schilder weisen darauf hin. Der Auftakt zum Musikfest 2020, zur ersten Konzertsaison unter Pandemie-Bedingungen, das Glück der Teilnahme ist schmerzlich erkauft. Ausgerechnet die Philharmonie, eins der schönsten Konzerthäuser der Welt, wird zur No-go-Area. Verweilen Sie nicht, begeben Sie sich umgehend in den Saal.

Dort sitzen alle auf Abstand, vor der Musik ist jeder mit sich allein, selbst Paare und enge Freunde. Was den Besuchern zunächst das ungewohnte Klangerlebnis eines Publikumschors beschert. Ein kräftiges, halblautes Raunen füllt die Weinbergterrassen: Die Entfernung über je zwei leere Plätze macht es nötig, dass man seine Stimme erhebt.

„Es fällt mir schwer, mich an diesen Anblick zu gewöhnen“, sagt Kulturstaatsministerin Monika Grütters in ihrem Grußwort. Sie lässt den Blick über die mit 450 statt 2400 Besuchern besetzten Ränge schweifen und erinnert daran, dass das Wort Hausmusik während des Lockdowns dank Igor Levits täglichen Twitter-Auftritten eine neue Bedeutung gewonnen hat.

Dass der 33-Jährige beim Musikfest zum Beethoven-Jubiläum nun sämtliche 32 Klaviersonaten nicht im Kammermusiksaal, sondern im großen Haus spielt und die als Sideshow zum internationalen Orchesterfest geplante Reihe jetzt zu einem Hauptprogrammpunkt wird, ist Corona geschuldet. Seine Gesamteinspielung der Sonaten hat der in Berlin lebende Weltstar bereits 2019 veröffentlicht und die Sonaten vielerorts schon aufgeführt.

Intimität auch im großen Saal: Levit setzt seine Hauskonzerte öffentlich fort

Dennoch spricht Levit vor der Zugabe mit der zarten, eigens für ihn geschriebenen Komposition „Trees“ des amerikanischen Jazzpianisten Fred Hersch vom Glück, hier sein zu dürfen. Und setzt seine Berliner Hauskonzert-Reihe gewissermaßen fort, indem er im Saal die gleiche Intimität herstellt, schon in den ersten Takten der f-moll-Sonate, op. 2, Nr. 1. Dem Dreiklangsmotiv nach oben, der Mannheimer Trompete mit der anschließenden Sechzehntel-Triole, folgt sofort eine Pause.

Beethovens Einhalten, der Rückblick auf Haydn und Mozart bei gleichzeitiger Verweigerung des melodischen Flusses – es passt zu unserer stotternden, stockenden Gegenwart. Und die Philharmonie wird zum Wohnzimmer.

Extreme Tempo, extreme Dynamik: die Finessen und den Schock gibt es nur live

Wobei ihm die Triole öfter verwischt. Aber das macht nichts; mehr noch als in der Sony-Einspielung riskiert Levit alles. Mit extremen Tempi, extremer Dynamik. Auf vibrierende Beinahe-Stille folgt donnerndes Fortissimo, fluffige Arpeggien beschließt er mit ruppigen Stakkatos. Perlender Anschlag, radikal isolierte Motive, rüde insistierende Wiederholungen, Beethovens Ungeduld, die offen zutage tretende Gewalt in den Akkordklumpungen: Man möchte die Zeit anhalten, um all den Seelenschwankungen folgen zu können. Das gibt es tatsächlich nur live, die Finessen und der Schock, die Flüchtigkeit der Sensationen, ihr utopisches Moment. Und die Bangigkeit, ob das rasende Tempo bei der Prestissimo-Coda der Waldsteinsonate nicht doch noch in die Katastrophe mündet.

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Igor Levit nimmt Beethoven persönlich. Die Lochmuster im Adagio der ersten Sonate stanzt er liebevoll aus, den Trauermarsch der As-Dur-Sonate Nr. 12 versieht er mit schweren Gewichten und herrischen Tremoli. In der kurzen G-Dur-Sonate op. 79, die er wie ein Intermezzo der Waldsteinsonate mit ihrer die klassische Form zersprengenden Kühnheit voranstellt, kostet er die Lust an der Pointe aus. Auch bei den meist abrupten Satzschlüssen, mit denen Levit die Musik gleichsam vom Tisch fegt, breitet sich Heiterkeit im Saal aus.

Erleichterung, Jubel am Ende, bitte setzen Sie Ihren Mund-Nasen-Schutz wieder auf. Da ist sie wieder, die Beklemmung. Wir tasten uns vor in die Corona-Konzertsaison, mit Beethoven, mit Levit und einem in Regenbogenfarben ausgeleuchteten Wegeleitsystem.
Sämtliche Levit-Konzerte bis zum 20. 9. sind ausverkauft. Sie werden kostenfrei live in der Digital Concert Hall gestreamt und sind anschließend für 72 Stunden auf www.berlinerfestspiele.de abrufbar.

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