zum Hauptinhalt

Kultur: Mut zur Mitte

Milieu-Studie: Eine Anthologie versammelt Erinnerungen an die Nachtleben-Kultur der Neunziger

Heike trinkt noch einen doppelten Wodka. Eigentlich wollte sie nie darüber schreiben, wie es ist, Mutter zu sein. Sie betritt das Podest, setzt sich ans Mikrofon und schlägt das „Mittebuch" auf. „Die Kinder vom Elternzoo" heißt ihre Geschichte. Sie erzählt von Kleinkindern in Designer-Kleidung und von der Unmöglichkeit, auf Spielplätzen Zeitung zu lesen, von ihrer Flucht, raus aus der erstickenden Normalität der westdeutschen Provinz, um dann doch nur in einem anderen Dorf anzukommen. „Ich würde behaupten", liest Heike, „dass Mitte davon handelt, sich mit bröckelndem Mörtel, Hundekacke und Milchkaffee eine möglichst selbstbestimmte, überschaubare Idylle zu bauen."

Als Heike fertig ist, kommt Almut dran. Auch sie liest eine Geschichte vor, von ihrem Umzug in die Bergstraße. Almut musste das Bett, das ihr Ex-Freund noch kurz vor der Trennung für sie gebaut hatte, in der alten Wohnung zurück lassen, weil es nicht durch die Tür passte. Die Luft im Café Burger ist schwer wie feuchtes Laub, doch das scheint niemanden zu stören. Das Barpersonal reicht in rascher Folge Bier in Halbliterkrügen, Weißweinschorle und Schnaps über den Tresen. Nach Almut ist Marc an der Reihe. Marc schildert die Erlebnisse einer Nacht. Er war dabei, als der DJ mit dem roten Baseballhelm über den Plattentellern einschlief, während ein Student mit Rastazöpfen sich auf das T-Shirt seiner Begleiterin übergab und die Bar von einer betrunkenen Horde geplündert wurde. Die Zuhörer auf den Bänken im Café Burger lachen. Sie kennen den nächtlichen Ausnahmezustand, sie kennen auch den Club, in dem Marcs Episode spielt. Er wurde vor ein paar Jahren von der Polizei geräumt.

Am Tag nach der Lesung sitzt Jörg Sundermeier an seinem etwas unübersichtlichen Schreibtisch im Büro des Verbrecher Verlags. Bücher, CDs, Zeitungsausschnitte, Abrechnungen, altertümliche Bauteile von Computern und die aktuelle Ausgabe der „Jungle World“ stapeln sich um ihn herum wie eine Wagenburg. An der Wand hinter ihm hängt ein Plakat mit dem Kopf von Donald Duck und der Aufschrift „Möchten Sie so enten?". Jörg hat das „Mittebuch" herausgegeben, zusammen mit seiner Freundin Sarah und seinem Freund Werner. Es war eine Herzensangelegenheit, für die Herausgeber und für die Autoren. Einige wurden unsicher und zogen Texte zurück, die sie bereits abgegeben hatten. Zu sehr waren sie persönlich in das Thema verwickelt: Der Stadtteil Mitte als Fluchtpunkt, Lebensbühne und Zentrum der Berliner Republik. Das Buch versammelt nun 27 Beiträge: Essays, Momentaufnahmen, Zeichnungen, Kurzgeschichten, Montagen. Der Umschlag zeigt ein verworfenes Modell des Auswärtigen Amtes, das in einem Pappkarton steckt.

Zwischen den Umschlagseiten geht es auch um Entwürfe, die keine Gültigkeit mehr haben. „Mitte hatte einen Traum", sagt Sundermeier. „Den Traum von einem neuen Berlin. Dieser Traum ist gescheitert, weil Mitte kein vergangenheitsfreier Ort ist." Von Sundermeiers Fenster aus kann man die quadratischen Tische sehen, die gegenüber im Café Rosenthal aufgereiht sind. Öffnen lässt sich das Fenster allerdings nicht. Der Putz könnte abbröckeln und einen Touristen erschlagen, der vom Weg abgekommen ist. „Manchmal verirren sich hierher Leute auf der Suche nach dem Panasia. Die sind dann immer ganz erleichtert, wenn ich sie nach nebenan schicke." Nur noch wenige wissen, dass sich dort, wo heute der Nobel-Asiate logiert, einmal der wildeste Club der Stadt befunden hat, die Galerie BerlinTokyo.

Das Haus in der Rosenthaler Str. 39 ist das einzige Gebäude am Hackeschen Markt, das bisher von der Sanierungswalze verschont geblieben ist. Ein Stockwerk über dem Verbrecher-Büro stehen noch die gewaltigen Schneidemaschinen aus der Zeit, als das Haus die „Filmschaffenden der DDR" beherbergte. Das Kino und die Bar im zweiten Hinterhof gleichen angesichts der rundum veredelten Nachbarschaft einem Museum, in dem auf wundersame Weise das Berlin der Neunzigerjahre konserviert ist. Nach endlosem Rechtsstreit mit der Treuhand und ihren Nachfolgeorganisationen wurde das Haus erst vor kurzem der Erbengemeinschaft zugesprochen. Nun soll es versteigert werden.

„Alle begeistern sich für die Berliner Clubkultur", sagt Sundermeier. „Niemand erinnert sich daran, dass in arisierten Räumen getanzt wird." Das Nachtleben profitiert von der Enteignung jüdischen Besitzes durch die Nazis. Deshalb hat Sundermeier bei der Zusammenstellung der Texte fürs Mittebuch darauf geachtet, dass unterhaltsame Alltagsimpressionen mit historischen Hintergründen verwoben sind. Ein Text trägt den Titel „Jewish Disneyland" und untersucht die Inszenierung des Jüdischen rund um die neue Synagoge. Das „Mittebuch" will auch ein Geschichts- und Lehrbuch sein. Hauptsächlich ist es jedoch der persönliche Nachlass einer Generation, die in den Neunzigern das kulturelle Leben zwischen S-Bahn und Invalidenstraße beherrschte. Die meisten Autoren der Anthologie sind zwischen 30 und 35. Sie wuchsen in Bielefeld, Düsseldorf und Osnabrück auf. Sie kamen nach Berlin, um nicht in der Bundesrepublik leben zu müssen. Sie lernten den Rausch und die Freiheit in der Zeit des Übergangs kennen, gingen diesen oder jenen Projekten nach und dachten, dass das ewig so weitergehen würde.

Dann hat sie die Bundesrepublik doch eingeholt. „Der Enthusiasmus ist weg", resümiert Sundermeier. „Und das ist nicht nur eine Frage des Alters.“ Die Stadtentwicklung hat die Nischen und ihre Nischen-Existenzen zugeschüttet. Seine Autoren tragen die Zumutungen der Außenwelt mit Humor („Ich sammle alle ungeöffneten Rechnungen in einem Schuhkarton, auf dem ,wichtig’ steht, und nach einem halben Jahr ist der Karton voll"). Sie fangen an zu nörgeln („Die Aktionsgalerie – ein Inselchen in einem Meer von überteuerten, asexuellen Lokalen und Restaurants, in denen hässliche Mittelklasse-Nerds mit Koteletten herumhängen"). Oder sie ziehen sich zurück („Wer fern sieht, ist niemals allein"). Die kleinen Revolten gegen alles Alltägliche münden in einem vielstimmigen Gesang, der angenehm entspannt klingt. Die schrille Tonlage des Hypes überlässt das „Mittebuch" anderen. Auch deshalb ist es ein gutes und interessantes Buch geworden über den Aufbruch einer Jugendgeneration, die eine Heimat jenseits des Politischen gesucht hat.

Sundermeier reibt sich die Augen hinter den Brillengläsern. Bis um zwei hat er es gestern im Café Burger ausgehalten. Einer, der gerade aus Zürich zugezogen ist und zu den ersten Käufern des Mittebuchs gehört, kam auf ihn zu und sagte: „Jetzt weiß ich, wo ich wohne." Mit Heike konnte Sundermeier sich nicht mehr unterhalten. Sie musste früh nach Hause.

„Mittebuch“. Herausgegeben von Jörg Sundermeier, Verena Sarah Diehl und Werner Labisch, Verbrecher Verlag, Berlin 2003. 160 Seiten. 12,30 Euro.

Heiko Zwirner

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false