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Polyglott. Wolfgang Dauner 1980 bei den Berliner Jazztagen.

© picture-alliance / dpa / Clauß

Nachruf Wolfgang Dauner: In vielen Zungen reden

Einer für fast alles: zum Tod des unvergleichlichen Pianisten, Komponisten und Bandleaders Wolfgang Dauner.

Von Gregor Dotzauer

„Knirsch“ hieß das Album, auf dessen Cover ein parodontosegefährdetes Riesengebiss gerade einen knallroten Fuß zermalmt. Ob die farbigen Drähte, die durch die Zahnreihen lugen, zu einem Maschinenwesen gehören, dessen Restkörper schon vollständig verspeist ist, oder ob sie in einen strombetriebenen Verdauungstrakt führten, der Menschenfleisch verarbeitet, ist nicht ganz ersichtlich.

Der elektroakustische, abwechselnd ins Geräuschhafte und ins Elegische umschlagende Hexenkessel, in dem der Pianist Wolfgang Dauner mit seiner um den amerikanischen Stargitarristen Larry Coryell und den englischen Schlagzeuger Jon Hiseman erweiterten Band Et Cetera rühren, lässt beide Möglichkeiten zu.

Der Jazzrock von „Knirsch“ kam aus dem tiefsten Schwarzwald. 1972 in den Studios von Hans-Georg Brunner-Schwer, dem Gründer des MPS-Labels, in Villingen aufgenommen, handelte es sich um ein herausragendes Beispiel für den Eigensinn einer neuen deutschen Musikergeneration.

Die Energie stammte aus Gärungsprozessen, die sich nicht nur auf den Einfluss von Miles Davis’ revolutionärem, zwei Jahre zuvor erschienenen Doppelalbum „Bitches Brew“ zurückführen ließen, sondern auch auf europäische Umwälzungen, ja auf autochthone deutsche Entwicklungen.

Kaum ein Stil, der er nicht verwurstet hätte

Mit „The Oimels“ hatte Dauner drei Jahre zuvor, gleichfalls auf MPS, ein Album eingespielt, dem man die verschiedensten Kategorien verpassen kann: psychedelisch gefärbter Beat, jazzüberschminkter Pop – oder schlicht Krautrock. Noch ein Jahr zuvor hatte er „Rischkas Soul“ aufgenommen, ein locker swingendes Stück tanzbaren Jazz mit fröhlich aufschäumender Hammond-Orgel. Es gibt kaum einen Stil, den er im Lauf seines Lebens aus der Perspektive des Jazz nicht zumindest verwurstet hätte. Dabei hatte alles ganz anders angefangen.

Das Klavier, an dem ihn anfangs seine Tante unterrichtete, hatte früh Eingang in sein Leben gefunden, doch er musste es sich auf dem Umweg über die Trompete erobern. Wolfgang Dauner, am 30. Dezember 1935 als Kind einer sofort zerbrochenen Liaison in Stuttgart geboren und bei einer Pflegemutter gewissermaßen als Waise aufgewachsen, hatte zunächst eine Lehre als Maschinenschlosser absolviert und arbeitete zwei Jahre in einer Druckmaschinenfabrik.

Wolfgang Schorlaus 2010 in der Edition Nautilus erschiene Biografie „Das brennende Klavier“ gibt über viele Details Auskunft.

Die Gelegenheit, seiner Berufung zu folgen, ergab sich, als er eingeladen wurde, für 40 Mark Abendgage in der Tourneeband von Marika Rökk Trompete zu spielen. Konzertreisen mit Zarah Leander und Lale Andersen folgten. 1958 besuchte er eine Weile sogar die Stuttgarter Musikhochschule, studierte im Hauptfach Trompete sowie im Nebenfach Klavier und Komposition, schmiss aber hin und brachte sich das, was er können zu müssen meinte, selber bei. Die Ergebnisse sprechen noch heute für sich.

Durchbruch mit "Dream Talk"

Mit „Dream Talk“ und seinem Trio, dem Kontrabassisten Eberhard Weber und dem nach dem Dienst in der US Army in Stuttgart hängengebliebenen Schlagzeuger Fred Braceful, gelang ihm 1964 der Durchbruch. Die Zeit hat der zauberischen, überwiegend balladesken Dichte dieses Albums wenig anhaben können. Dem 29-Jährigen ist hier auf einem für damals überragenden technischen Niveau seine Bewunderung für die melancholische Eleganz von Bill Evans anzuhören. Zugleich entgrenzt sich das Ganze schon ins modale Spiel eines McCoy Tyner und findet in Kompositionen wie „Zehn Notizen“ einen eigenwilligen Ton.

An der Musik der Folgejahre ist die Zeit weniger spurlos vorübergegangen. Aber das macht nichts – im Gegenteil. In der Gemengelage zwischen englischer Canterbury-Versponnenheit à la Soft Machine, deutscher Tripmusik zwischen Can und Amon Düül oder amerikanischer Fusion holen Dauner und seine Bands mit ihren Mitteln das Äußerste aus sich heraus.

Er, vom reinen Pianisten längst zum elektronisch quietschenden, brummelnden und grummelnden Keyboarder geworden, immer mittendrin. Man höre nur in einem HR-Mitschnitt von den Frankfurter Jazztagen 1972 (auf YouTube), wie „Knirsch“ unter Larry Coryells greller, dreckiger Gitarre sowie dem Doppel-Drumming von Hiseman und Braceful mit Lust an der Verausgabung beschleunigt und intensiviert wird.

Der schwäbische Zappa

Die bis zum Überdruss betriebene Charakterisierung als schwäbischer Frank Zappa kommt wohl aus jener Zeit, hat über Äußerlichkeiten hinaus aber durchaus ihren Sinn. Einen stärkeren Sinn für genresprengende Experimente, Provokationslust, Theatralik und orchestrale Großformen hat es hierzulande nie gegeben. Im Auftrag der Berliner Jazztage komponierte er die Oper „Der Urschrei“ und ein Requiem für Che Guevara, schrieb Filmmusiken, etwa zu Murnaus „Faust“, und blieb bei allem destruktiven Aktionismus, zu dem er in jüngeren Jahren fähig war, doch kindertauglich.

Mehrfach war er als Stuttgarter Jazzonkel zu Gast in der „Sendung mit der Maus“ und produzierte mit seinem Trio für die ARD eine vierteilige „Glotzmusik“. Spätestens 1976, als er das United Jazz + Rock Ensemble mitbegründete, aus dessen Kreisen im Jahr darauf das Label Mood Records hervorging, war er eine Institution.

Mit dem stilprägenden Posaunisten Albert Mangelsdorff bildete er ein Duo, mit dem Bandoneonspieler Dino Saluzzi und dem Saxofonisten ein Trio, und auch als Solopianist, der vor allem in romantisch-repetitiven Gewässern unterwegs war, hatte er einen Namen.

Der Einbruch kam 1999, als ihn ein Schlaganfall ereilte, von dem er sich nur langsam erholte. In den letzten Jahren konzentrierte er sich auf ein Duo mit seinem Sohn Florian, einem versierten Schlagzeuger, der auch für die Fantastischen Vier trommelt. Welche ungeheure Breite sein Werk hat, das lässt sich jetzt, nach seinem Tod am vergangenen Freitag im Alter von 85 Jahren, angesichts zahlreicher Wiederveröffentlichungen besser denn je ermessen.

Aber es gibt auch welche, die hartnäckig fehlen. Etwa eine 1969 von Manfred Eicher für Calig produzierte Aufnahme namens „Für …“. Auf dem Cover spinnt sich Wolfgang Dauner lauter Wunderwirkungen zurecht, unter anderem, „dass sich diese Platte beim Abspielen so stark erhitzt, dass sie zähflüssig über den Rand des Plattenspielers läuft“. Das würde man allzu gerne sehen.

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