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Kultur: Nachtaktive Säugetiere

Vor 15 Jahren begann sich die Kleinkunst neu zu definieren. Mittendrin: die Bar jeder Vernunft

Mit dem Musical „Cabaret“ schließt sich der Kreis. Gewissermaßen. Der aktuelle Dauerbrenner in der Bar jeder Vernunft funktioniert als ausdrückliche Reminiszenz ans Berlin der zwanziger Jahre, das auch Heerscharen von Chanteusen und Chansonniers, oftmals hauptberuflich Schauspieler(innen), in ihren Programmen zu beschwören suchen. Vor allem bis in die frühen Neunziger war der Begriff Kleinkunst mit Kästner- und Tucholsky-Rezitatoren sowie mit Aufgüssen der musikalischen Vorkriegsknüller von Friedrich Hollaender & Co. belegt. Wiedergänger der Comedian Harmonists und schwarzgewandete Diseusen bestimmten das Bild. Der „kleine grüne Kaktus“ oder „Die Kleptomanin“ hingen dem interessierten Beobachter bald schon zum Hals heraus.

Zugleich aber brodelte es an allen Fronten der Unterhaltungskultur. Und in dieses Brodeln hinein öffnete die Bar jeder Vernunft ihre Pforten. Das Fernsehen hatte dafür den Weg bereitet, indem es die Tradition der Sketche und humoristischen Vorträge entrümpelt und mit RTL-Samstagnacht die Comedywelle initiiert hatte. In Berlin freilich gab es Vergleichbares bereits seit 1986: Der wohnstubenkleine Laden in Schöneberg nannte sich Scheinbar kleinstes Theater Berlins, heute nur noch Scheinbar, und widmete sich, vom Mainstream kaum beachtet, vor allem den Spielarten des Varietés. 1989 und 1991 kamen mit den Varietétheatern Quartier und Chamäleon zwei größere Tollhäuser hinzu, die demonstrierten, wie das komatöse Genre zeitgemäß wiederbelebt werden kann. Wohl eher das Hamburger Schmidt-Theater als den Frankfurter Tigerpalast im Sinn, postulierte Quartier-Mitinhaber Holger Klotzbach: „Varieté kann alles sein, vom Arschpfeifer bis zum Zitherspieler.“

Doch sie pfiffen und zitterten nur ein Jahr – der Theaterwissenschaftler Lutz Deisinger und Klotzbach, der unter anderem den Zirkus Roncalli mitbegründet, das Schwarze Café in der Kantstraße aus der Taufe gehoben und im Kreise der 3 Tornados anarchisches Politkabarett betrieben hatte. Nach der Pleite wurde aus dem Quartier der Wintergarten, und die beiden Impresarios suchten nach einem neuen Wirkungsfeld.

Ein altes holländisches Vergnügungszelt – ähnlich jenem, mit dem der Zirkus Aladin einige Jahre zuvor in Berlin gastiert hatte – bot sich an, genau zur rechten Zeit, als angemessen unsteter Ort im Sog einer reüssierenden Kleinkunstlandschaft, die sich deutlich von den Vorbildern der Weimarer Zeit emanzipierte. Das Trio Ars Vitalis, das zur Eröffnung am 5. Juni 1992 auftrat, zeigte sich programmatisch bar jeder Vernunft. Stilistisch nicht mehr auf ein Genre oder eine Epoche festzulegen, jonglierten die Kölner Gäste mit literarischen Versatzstücken und wilderten musikalisch zwischen Jazz, Rock, Schlager und Klassik.

Obwohl kein unmittelbarer Zusammenhang hergestellt werden kann, bricht nach der Berliner Mauer auch der Begriff Kleinkunst auf. Aus Abgestorbenem sprießt neues Leben, aus der aufgelösten Off-Musicaltruppe College of Hearts entstehen das einzigartige, mittlerweile mit Preisen überhäufte Duo Pigor & Eichhorn sowie eine Institution namens Popette. Es ist dies Susanne Betancor, eine frühe musikalische Weggefährtin Helge Schneiders, die absurd-poetische Texte in ohrwurmigem Gewand über die Rampe schickt. Das definitive Ohrwurmduo freilich bestand aus Gayle Tufts mit ihrem pianierenden Komponisten Rainer Bielfeldt. Seit damals wissen wir, was „dinglish“ ist.

Den Begriff des Postmodernen repräsentieren die Geschwister Pfister. Sie zitieren, was das kitschige Zeug hält, ihre Interpretationen deutscher und internationaler Schnulzen sind schnulziger als die Originale. Sie stehen fürs „Anything goes“ (Hat da jemand „Beliebigkeit“ gesagt?), etwa mit einem Fernsehauftritt im für gewöhnlich strikt politischen Scheibenwischer, während „Das Palast Orchester mit seinem Sänger Max Raabe“ in Karl Moiks Musikantenstadl spielte.

In Berlin lebende nachmalige Bar-Stars wie Cora Frost, Désirée Nick, Tim Fischer oder Ades Zabel schwärmten in den goldenen Neunzigern an andere Orte aus, um ihre gegen den Strich gebürsteten Darbietungen auszuprobieren. In Kreuzberg betrieb die Neo-Grotesktänzerin Charla Drops das kleine Unart, in Prenzlauer Berg lud Puppentheater- Crack Peter Waschinsky gegen ein geringes „Türgeld“ in den bollerofenbeheizten Schlot. Interessant, dass hier wie in allen östlich sozialisierten Kreisen stets von Cabaret die Rede war. Der Begriff mag zwar in vielen Köpfen das Rotlicht anknipsen, vermeidet aber ein notorisches Missverständnis, dem die „Kleinkunst“ unterliegt. Erst wenn wir „klein“ nicht als „gering“ sondern als „intim“, im Sinne von Publikumsnähe, verstehen, kommen wir der Sache schon näher.

Viele Geschichten könnten erzählt werden, von aufregenden Kleinkunstaktivitäten, Varietéschiffen, Festivals, kurzlebigen Formationen und Solisten, die die Szene kometenhaft erhellten. Oder von improvisationsgeneigten Nummernprogrammen, die allenthalben aus dem Boden schossen. Was im Quartier mit dem „Blauen Montag“ vorgemacht und dann von Klotzbachs Ex-Tornado-Kollegen Arnulf Rating an wechselnden Orten fortgeführt wurde, funktionierte ebenso im Chamäleon („Mitternachtsshow“), in der Bar jeder Vernunft („Nachtsalon“) oder mit ambulanten Showschienen wie Tanja Ries’ „Nachtcafé“ und Dr. Seltsams Veranstaltungskonzepten – beispielsweise dem „Frühschoppen“ als Mutter aller Lesebühnen oder der „Nachtklinik“, die eine Zeit lang auf der Bühne des BKA (Berliner Kabarett-Anstalt) stattfand. Hier auch entwickelte Prinzipalin Franziska Keßler zusammen mit dem österreichischen Kabarettisten Josef Hader den wohl originellsten Titel für solch ein buntes Spätprogramm: „Nachtaktive Säugetiere“.

Was ist aus der Blütezeit geblieben? Das BKA-Theater am Kreuzberger Mehringdamm ist bis heute ein innovativer Ort für Künstler, die erstmals Berliner Bühnenluft schnuppern – beispielhaft genannt sei der höchst originelle Verwandlungskünstler Ennio Marchetti aus Italien, der später En-suite-Erfolge im Tipi feierte.

Im Gegensatz zu anderen Kleinkunst- Etablissements setzte die Bar jeder Vernunft von Anfang an auf die Prominente. Man versicherte sich namhafter „Schirmherren“, was überdurchschnittliche Beachtung durch die Medien garantierte. Auf dieser Grundlage konnten Klotzbach und Deisinger mit riskanten Eigenproduktionen überraschen. Insgesamt zweiundzwanzig – mitunter an andere Spielstätten ausgelagert – pflasterten den Weg zum triumphalen „Cabaret“. Bereits 1994 wagte man eine so illuster wie originell besetzten Neuauflage der Operette „Im weißen Rößl am Wolfgangsee“, und drei Jahre später trafen sich mit Brigitte Mira, Helen Vita und Evelyn Künneke „Drei alte Schachteln in der Bar“.

Ein anderes Entertainment-Kleeblatt, namens Gitte, Wencke, Siw, setzte das Erfolgsrezept 2005 im Tipi fort. Mit der Gründung dieses größeren Zeltes 2002 trugen die Bar-Macher dem Umstand Rechnung, dass mancher Künstler den kompakten Holz- und Spiegelverschlag auf dem Wilmersdorfer Parkdeck sprengt – schon wegen des hohen Publikumsandrangs. Dennoch bietet das kanzleramtsnahe Tipi längst nicht nur Mainstream. Davon zeugt etwa der wunderbar schräge, melancholisch versponnene Musikkabarettist Rainald Grebe, der für sein letztes Programm vom kleinen ins große Zelt ziehen durfte.

Das derweil scheinbar endlos laufende „Cabaret“ belegt beiläufig, wie sich Groß und Klein, Regional und International, Intim und Pompös befruchten: Als „Cabaret“-Regisseur hatten Klotzbach und Deisinger den renommierten Choreografen Vincent Paterson verpflichten können. Nachdem die Produzenten des kanadischen Cirque du Soleil eine Vorstellung gesehen hatten, beauftragten sie Paterson, die nächste, extrem teure Show ihres Bombasto-Unternehmens, eine Elvis- Presley-Hommage, zu inszenieren. Ist das jetzt Großkunst?

Norbert Tefelski

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