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Kultur: Nachts sind alle Kerker grau

An der Deutschen Oper Berlin grassiert das Fieber. Das Premierenfieber: Der Trompeter, der sein Solo in der Ouvertüre total versemmelt, die Hornisten, die bei Leonores Arie daneben liegen, sind die auffälligsten Exponenten der Anspannung, die an der Bismarckstraße herrscht.

An der Deutschen Oper Berlin grassiert das Fieber. Das Premierenfieber: Der Trompeter, der sein Solo in der Ouvertüre total versemmelt, die Hornisten, die bei Leonores Arie daneben liegen, sind die auffälligsten Exponenten der Anspannung, die an der Bismarckstraße herrscht. Jetzt nur kein Flop! Nur nicht durch Negativschlagzeilen die Aufmerksamkeit der Politik auf sich lenken oder, noch schlimmer, die Aufbruchstimmung im eigenen Haus dämpfen!

Denn es durchweht wirklich ein neuer Teamgeist Berlins größte Oper. In den Foyers wie auf der Bühne ist manches alte Gerümpel beseitigt, die Verlotterung des Repertoires am Ende der Ära Friedrich mit wechselnden Solisten in fast jeder Vorstellung ist einer neuen Konzentration gewichen, die durch konstante Besetzungen Qualität auch im Alltag sichert. Statt mit den Diven vergangener Tage prunkt der Spielplan immer öfter mit wirklichen Stars, aber vor allem mit interessanten, jungen Solisten. Und selbst das Orchester hält still, obwohl es schwer unter der finanziellen Bevorzugung der Staatsoper leidet. Das Publikum hat diese kollektive Kraftanstrengung bis jetzt mit Rekord-Auslastungszahlen honoriert.

Am Dienstag aber schrammte die Deutsche Oper knapp an einem Skandal vorbei: Schon als Heinrich Schiff nach der Pause in den Orchestergraben zurückkehrte, schallten ihm Buh-Salven entgegen. Als sich am Ende das Regieteam zeigte, schwollen die Unmutsäußerungen orkanartig an. Wenige Bravo-Rufer stemmten sich dem entgegen, doch der müde Applaus reichte gerade für zwei Vorhänge. Was war geschehen?

Christof Nel, der sich mit einer fulminanten Stuttgarter "Walküre" und einem spannenden "Freischütz" an der Komischen Oper in der Riege der Opernregisseure ganz nach vorne gespielt hat, wollte Beethovens "Fidelio" nicht so inszenieren, wie das Werk es nahelegt: als Freiheitsfeier im Stil der nachrevolutionären Rettungsoper um 1800, als Lobpreis auf die Pflicht zum zivilen Ungehorsam. Kein schlechter Gedanke - aber das zeigen bereits die anderen beiden Berliner "Fidelios" auf jeweils eigene, überzeugende Weise. Was aber kann Beethovens einzige Oper sein, wenn nicht, wie in der französischen Librettovorlage, "comédie larmoyante" oder "tragédie bourgeoise"?

Nel beriet sich mit klugen Menschen seines Vertrauens - und tappte voll in die Dramaturgen-Falle. Beim Blick in die Partitur, beim Studium der Komposition fallen Ungereimtheiten auf: Wenn man Beethoven "rückwärts" hört, also die Parameter des Musikdramas Wagnerscher Prägung anlegt, wundert man sich, dass im Quartett des ersten Aktes vier Menschen auf derselben Tonbasis von vier verschiedenen Gefühlen singen, fragt man sich, warum die Klänge so ähnlich sind, die Beethoven für himmelhochjauchzende wie für zu Tod betrübte Augenblicke bereit hält.

Wer übersieht oder übersehen will, dass der "Fidelio" ein Zwitter ist, ein Werk des Übergangs zwischen zwei ästhetischen Schulen - dem feinen Mienenspiel der Klassik und der dramaturgischen Drastik der Romantik - mag hier "einen fast subversiven Ton" entdecken, "der viel mit Surrealismus zu tun hat", einen "Gestus, der in der Nähe des Bitter-Sarkastischen, ja sogar des Absurden zu führen scheint". Er könnte auf die Idee kommen, dass "die Musik einen Subtext zum äußeren Geschehen" liefere, dass sie "dem Irr-Sinn ganz nahe" komme.

Hat der musikgeschichtlich Halbwissende diesen Holzweg erst einmal betreten, sind es nur noch ein paar Gedankensprünge bis zur fixen Idee, dass jeder Kerker auch das Bild des "schützenden Ortes", der Uterus-Höhle in sich trägt, dass die Befreiung Florestans aus der politischen Gefangenschaft, um die es hier geht, keine Erlösung sein kann, weil ja mit den Ketten immer auch Bindungen gelöst werden. Im Programmheft hört sich das so an: "Wenn die Fessel auch das eigene Sein hält, droht die Gefahr, dass das mühsam Zusammengehaltene zerfällt, die gefürchtete und mit Schmerzen aufgehaltene Selbstauflösung Wirklichkeit werde." Auf den Austritt des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit eines missglückten Eheverhältnisses mag das zutreffen. Wem beim Blick auf die Rettung eines Menschen aus zweijähriger Einzelzellenfolter solche Gedanken kommen, der sollte nächstens zur Vorbereitung des "Fidelio" statt Kants Schriften besser den Jahresbericht von Amnesty International konsultieren.

In dem spitzen Wände-Winkel von Jens Kilian, der gleichzeitig als Gefängnis-Innenhof und unterirdisches Verlies dient und mit seinem extrem verkleinerten Portal aussieht, als habe ihn der Bühnenbildner früher für ein Stadttheater entworfen, agieren also laut Nels Werkanalyse Menschen ohne Sinn und Verstand. Die Dialoge sind darum gestrichen oder werden im ersten Akt in ein Mikrofon geraunt, im zweiten Akt bewusst unbeteiligt heruntergeleiert. Kommunikation findet hier nicht statt, auch die Liebenden werden sich beim "Namenlose Freude"-Duett nicht berühren.

Der Gefangenenchor tritt in abscheulichen Kostümen von Ilse Welter auf, als habe man ihn aus dem Musiktheater-Fundus des realexistierenden Sozialismus gekratzt, und muss nach gesungener Tat die Oberbekleidung ablegen und Winkelemente schwenken. Im Finalbild, das den Aufenthaltsraum einer Irrenanstalt zeigen könnte, lassen die Chordamen ihre Plastikbabys fallen. Und eine Leonore im Brautkleid reißt dem traumatisierten Florestan die Zwangsjacke in Fetzten vom Leib, während sich der deus ex machina, der Minister, der Pizarros Willkürregime im Libretto ein Happy-End bereitet, völlig unbeteiligt seinen gut sitzenden Anzug zur Schau stellt. Da aber hat es selbst der gutwilligste Fan zeitgenössischen Regietheaters längst aufgegeben, dem Inszenierungsteam durch die Einbahnstraßen der Gehirnwindungen nachzusteigen.

Fatalerweise paart sich die verkopfte Überinterpretation auf der Szene mit einer kopflosen Unterinterpretation im Graben. Heinrich Schiff, der weltweit geschätzte Cellist, der seit über 15 Jahren auch als Dirigent arbeitet, ist ein Künstler, der körperliches, plastisches Musizieren liebt. Er hat Gespür für Temporelationen, für rhythmische Kontur und gestische Bögen, das merkt man. Dem Orchester aber weiß er davon zu wenig zu vermitteln. Die atmosphärischen Schattierungen dieser Musik, die (siehe oben) Hell und Dunkel, Hass und Anbetung mehr andeuten als offen aussprechen, bleiben bei Schiff unterbelichtet. Geschäftig arbeiten sich die Musiker durch die Partitur. Eine Geschichte aber wird hier nicht erzählt.

Auch den Sängern ist Schiff selten eine große Hilfe. Die Chöre wackeln, die Ensembles ebenso. Und die Protagonisten kämpfen mit sich selber: Mark Baker (Florestan) ist als halskrank angesagt, muss vielfach eine Oktave nach unten transponieren, um über die Runden zu kommen. Seine Bühnengattin Eva Johansson ist gut bei Stimme - nur ist ihr Sopran einfach noch nicht reif für die Leonore. Der verdienten Haus-Diva der Deutschen Oper war die Partie ein Herzenswunsch auf dem Weg ins hochdramatische Fach. Man wollte ihn ihr nicht verwehren - und tut ihr doch keinen Gefallen damit.

Uwe Peper (Jaquino) und Fionnuala McCarthy (Marzelline) vertreten das Ensemble überzeugend, auch wenn der zauberhaften Irin die Strapazen des Doppelengagements an der Bismarckstraße und als Juliette an der Komischen Oper anzuhören sind. Am wohlsten fühlt sich Franz Hawlata: Er veredelt den feigen Mitläufer Rocco durch dem Samtschimmer seines Bassbaritons (gegen die Regie-Intentionen) zum mitfühlenden Menschen. Eike Wilm Schulte dagegen hat zwar alle Töne für den Pizarro, den mordlüsternen Fiesling aber nimmt man diesem zur Danny-DeVito-Karikatur aufgestylten Typen keine Sekunde lang ab.

Anfang der 90er Jahre wurde die Inszenierung von Donizettis "Viva la mamma" an der Komischen Oper kurz vor der Premiere abgesagt - weil das Regieteam keine überzeugende Lösung gefunden hatte. Eine Tat, zu der Intendanten selten den Mut haben.

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