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Nachwuchsfilmer: Es gibt kein Draußen mehr

Vor der „First Steps“-Gala in Berlin: Die nominierten Nachwuchsfilme erzählen von Flucht und Gefangensein.

„Wir geben Ihrer Zukunft ein Zuhause – JVA“. Das Graffiti an einer Wand im Jugendknast ist gleich in der Anfangssequenz von Philip Kochs „Picco“ zu sehen, es gibt den Ton vor. Inspiriert von realen Fällen, erzählt dieser Abschlussfilm der Münchner Filmhochschule von Tätern, Mitläufern und Opfern, von einer gnadenlosen Hackordnung und der Eskalation der Gewalt. In der Enge einer Viererzelle wendet sich der angestaute Frust gegen den Schwächsten: ob der am Ende stirbt,ob man zum Mörder wird – egal. Er solle endlich aufhören, an die Welt da draußen zu glauben, sagt der Zellenboss zu dem, der noch letzte Zweifel hat: „Es gibt kein Draußen mehr!“

Kochs lakonisch inszeniertes Kammerspiel ist nominiert für den „First Steps“Nachwuchspreis, der am heutigen Dienstag im Theater am Potsdamer Platz verliehen wird. Der Wettbewerb wird seit dem Jahr 2000 von der Filmbranche finanziert und ausgerichtet, um den besten Absolventen der deutschsprachigen Filmhochschulen eine Bühne zu geben. Aus 169 akzeptierten Einreichungen hat eine Jury 15 Spielfilme, sechs Dokumentationen und vier Werbespots nominiert.

Neben den mit insgesamt 72 000 Euro dotierten Auszeichnungen für abendfüllende Spielfilme, Spielfilme bis 60 Minuten, Kurz- und Animationsfilme, Dokumentarfilme sowie Werbefilme gibt es 2010 eine besondere Ehrung für die beste Kamera, nach Sonderpreisen für Drehbuch oder Schauspiel in den vergangenen Jahren. Diese Auszeichnungen, sagt „First Steps“-Programmleiterin Andrea Hohnen, sollten auch darauf aufmerksam machen, dass Filmemachen immer eine Gemeinschaftsanstrengung ist.

Du bist eingesperrt - in deiner Zelle, deinem Körper, deinem Kopf

Die Anstrengungen haben sich gelohnt. „Es ist ein sehr guter Jahrgang“, findet Hohnen. Die Regisseure schauen dorthin, wo es wehtut. Denn Philip Kochs Film ist nicht der einzige Wettbewerbsbeitrag, der authentisch und handwerklich souverän über Gewalt nachdenkt. Genauer: über männliche Gewalt. Ein aktuelles Thema in Zeiten jugendlicher Messerstecher und kindlicher Intensivtäter.

Wie auch die Heimkids in Lisa Violetta Gaß’ „Gisberta“ (IFS Köln), deren Skrupellosigkeit denen ihrer älteren Brüder im Jugendknast erschreckend ähnelt. Oder die beiden Jugendfreunde in Oliver Kienles rasantem Film „Bis aufs Blut“ (Ludwigsburg). Wegen Drogendelikten im Bau, müssen sie nicht nur ähnliche Misshandlungen erdulden wie die Opfer in „Picco“ – sondern in ihrer Welt aus kleinen Deals und großen Träumen auch immer wieder selbst zuschlagen, um sich zu behaupten.

Auch die Fassade des Bürgertums hat Risse. Da ist der Lehrer, der am Wochenende blutige Faustkämpfe mit gegnerischen Hooligangruppen austrägt – bis er eines Samstags einem seiner Schüler gegenübersteht („Heimspiel“ von Bogdana Vera Lorenz, IFS Köln). Oder die beiden Gymnasiasten in „Spaß mit Hase“ von der Wienerin Judith Zdesar, die aus Langeweile vor ihren Handykameras Prügelszenen nachstellen – bis der Spaß vorbei ist.

Das Gefühl: Du bist eingesperrt. In einer Zelle, in deiner Familie, in deinem Körper, in deinem Kopf. In Christina Ebelts „Wanna Be“ (KHM Köln) will eine junge Frau ihr Bein verlieren, komplett fühlt sie sich nur im Rollstuhl. Die pubertierende Titelfigur von Fabian Möhrkes „Philipp“ (HFF Potsdam) hat eigentlich alles: Taschengeld satt, ein Zimmer voller Musikinstrumente, den Wald hinterm Haus. Was Philipp nicht hat, ist Freiraum. Sein verdammt cooler Vater weiß und kann immer alles besser, der Sohn hat keine Chance. Und in Burhan Qurbanis HFF-Diplomfilm „Shahada“, der im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale lief, treiben die Schuldgefühle nach einer Abtreibung eine junge Türkin in den religiösen Fundamentalismus – noch ein Fluchtversuch.

Einfache Antworten gibt es nicht. Nichts wird aufgelöst

Natürlich lassen sich nicht alle nominierten Filme durch die Brille eines Oberthemas sehen, mitunter setzen sie ganz eigene Akzente. In „Satte Farben vor Schwarz“ von Sophie Heldman (DFFB Berlin) muss ein reifes Großbürgerpaar, das alles hat – ein Haus voller Kunst, tolle Kinder und Enkel –, im Angesicht des bevorstehenden Todes eine letzte Liebeskrise überwinden. Die Zürcher Pascal Hofmann und Benny Jaberg zeichnen in ihrer Doku mit „Le Chat qui pense“ das faszinierende Leben des Schweizer Kinokünstlers Daniel Schmid nach (Filmstart: 2. September). Und in „Ein Sommer voller Türen“ begleitet der Münchner Stefan Ludwig ein junges Werberteam vom Malteser Hilfsdienst – und arbeitet diskret die nicht nur von Nächstenliebe geprägten Mechanismen des Erfolgs heraus.

Gerade in den Dokumentationen scheint das Thema des Gefangenseins immer wieder auf. „Schattenzeit“ von Gregor Theus (KHM Köln) etwa ist ein sensibles Porträt dreier an Depression Erkrankter. Theus’ Kommilitone Florian Riegel zeigt in „Holding Still“ eine Querschnittsgelähmte, die ihre Umwelt mit Kameras beobachtet – vom Bett aus. „Ich kann zwar nicht laufen“, sagt sie. „Aber das ist okay. Mein Geist wandert.“ Und „Frauenzimmer“ von der Ludwigsburgerin Saara Aila Waasner stellt drei ältere Prostituierte vor, deren Geschichten nicht nur Selbstbewusstsein und Humor, sondern mitunter auch bestürzende Abgründe offenbaren.

Keiner der nominierten Filme zieht sich auf einfache Antworten zurück. Die jungen Filmemacher beobachten präzise, erzählen dicht, erlauben sich keine klaren Auflösungen, keine Gut-Böse-Konstruktionen. „Es gibt kein Draußen mehr“, das heißt auch: Wir sind alle drinnen. Und zwar zusammen. Das ist der Ausgangspunkt. Nach dem Abspann fängt die Arbeit erst an.

Am Donnerstag, 26.8., zeigt das Babylon Mitte ab 21.15 Uhr „Heimspiel“ und „Bis aufs Blut“. Infos: www.firststeps.de

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