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 Die 1943 in Dawlekanowo, Baschkirien, geborene russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja.

© Peter-Andreas Hassiepen/Hanser Verlag

Neue Erzählungen von Ljudmila Ulitzkaja: Balzacian

Scharfe Beobachterin und ironische Humanistin: Ljudmila Ulitzkajas Erzählsammlung "Alissa kauft ihren Tod".

In ihrer Erzählung „Drache und Phönix“ kreist Ljudmila Ulitzkaja um heikle Themen und wird ihrem Ruf, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, auch dann nicht, wenn die Gefahr droht, Tabus zu brechen, einmal mehr gerecht. „Beim Wort lesbisch erstarrte Mussja noch immer, wie ein kleines Mädchen, das bei einem Diebstahl ertappt wird. Tief in ihrer scheuen Seele saß die Furcht, das Wissen: Das ist etwas Schlimmes“, heißt es da an einer Stelle.

Im liberalen Deutschland, wo Homosexualität glücklicherweise zunehmend gesellschaftliche Akzeptanz erfährt, dürfte sich so manch einer fragen, warum Mussja das so empfindet. In Russland aber geht man mit Homosexualität bekanntlich weniger offen um.

Präsident Putin unterschrieb eigens ein Gesetz, das positive Äußerungen zum Thema etwa im Internet unter Strafe stellt. Nun ist Ulitzkaja eine erklärte Putin-Gegnerin. Sie beteiligt sich regelmäßig an Protestaktionen und engagiert sich seit Jahren in der Opposition. Eine große, mutige Frau.

Oft utopisch, oft märchenhaft

„Drache und Phönix“ ist eine unter vielen sehr guten Kurzgeschichten in dem jetzt erschienenen neuen Ulitzkaja-Buch „Alissa kauft ihren Tod“. (Erzählungen. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt Hanser Verlag, München 2022, 304 Seiten, 25 €.)

Neben der Homosexualität ist die Völkerverständigung ein weiteres Thema dieser Geschichte. Mussja nämlich ist Armenierin und Sarifa, ihre Partnerin, Aserbaidschanerin. Beide Ethnien sind verfeindet, in Aserbaidschan ist die Armenierfeindschaft nach wie vor quasi Teil der Staatsräson.

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Das auf Zypern lebende lesbische Paar hatte dessen ungeachtet geheiratet, in Amsterdam, zwölf Jahre bevor die Handlung einsetzt. Sarifas Familie reiste damals an und sofort wieder ab, als sich der vermeintliche Bräutigam als Braut entpuppte.

So viel Realitätsbewusstsein, so viel Sarkasmus muss bei all dem utopischen und märchenhaften Gehalt, den diese Texte mitunter bergen, sein – denn hier kann sich durchaus einmal eine Frau verpuppen und in einen Schmetterling verwandeln. Es geht um Liebe, Krankheit und Tod, um Leihmutterschaft und Sterbehilfe oder auch einfach um die Angst vor dem Zahnarzt. Die Handlung führt nach Moskau, Rom, Israel, München oder New York.

Der inhaltliche Facettenreichtum und vor allem die immense Vielschichtigkeit und Tiefe der Figuren erwecken den Eindruck einer breit angelegten, eng verschlungenen „Menschlichen Komödie“ à la Balzac. Dabei scheint sich diese große Erzählerin, scharfe Beobachterin und ironische Humanistin vollkommen darüber im Klaren zu sein, dass keine Komödie ohne Tragödie und auch keine Tragödie ohne Komödie auskommt.

Tobias Schwartz

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