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Kultur: Neue Wildnis

Der deutsche Wald, ein Wellnesspark? Aber was, wenn nach Bruno auch Wisente wiederkommen?

Der deutsche Wald ist eine Mischung aus Gewerbegebiet, Schießstand und Kurpark. Seine Eigentümer wollen mit Holz Geld verdienen, Jagdpächter wollen auch etwas Edles – und beide müssen dank Bundeswaldgesetz jene dulden, die sich des Kreislaufs, der Bronchien oder der Pilze wegen dort aufhalten.

Dass unsere Vorfahren ihn nur im Notfall betraten, haben wir längst vergessen. Manchmal allerdings blitzt die Erinnerung auf, etwa, wenn ein Camp rumänischer Panzerknacker entdeckt wird – oder wenn nach 170 Jahren wieder ein Braunbär umherschweift. Dann schwant dem Bundesbürger, dass im Wellnesswald womöglich die Räuber sind. Und dass es wohl schon bald nicht mehr nötig sein wird, den Bedarf an Wildnis in Alaska, Kenia oder Tasmanien zu decken.

Braunbär Bruno hat nur besonders vernehmlich angeklopft – die Lausitzer Wölfe sind schon seit den Neunzigerjahren da. Der Luchs überrennt Deutschland regelrecht; im Osten wurde er zuerst gesichtet, bald darauf in den Wäldern des äußersten Westens. Und kürzlich ist er ins Herz der deutschen Waldräuberromantik vorgedrungen, in den Spessart.

Dem Bären ist Deutschland nicht bekommen. Brunos Tötung hat viele Menschen erbost. Gleichzeitig ist die Mehrzahl der Deutschen zumindest unsicher, ob man solche Tiere willkommen heißen sollte, wie es der Bundesumweltminister getan hat. Die es bis nach Deutschland geschafft haben, nun ja, die haben ein Existenzrecht. Aber förmlich einladen sollte man sie nicht. Die Skepsis ist gewachsen, sagt eine Emnid-Umfrage.

Das spürt man auch am Rothaarsteig, einem beliebten Wanderweg in NordrheinWestfalen. Dort könnten Wanderer schon 2008 einen besonderen thrill erleben, wenn sie von einem Tier gewittert werden, das hierzulande vor 800 Jahren ausgerottet wurde. Im Landkreis Siegen-Wittgenstein sollen wilde Wisente angesiedelt werden – frei, ohne Zaun. Das Wisentrevier sollte sich ursprünglich auch auf den benachbarten Hochsauerlandkreis erstrecken. Allerdings kam von dort derart massiver Widerstand, dass die Wittgensteiner es nun allein machen wollen. Den Wisentgegnern kamen ein paar Fotos zupass, die im polnischen Urwald von Bialowiesza geschossen wurden: Darauf ist etwas zu sehen, das man, wäre man den Anthropomorphismen des Tiervaters Brehm nicht längst abhold, eine Hinrichtung nennen würde: Eine Wisentkuh stört sich an einem Wildschwein, das in der Nähe einer Winterfütterung herumlungert. Das Wildrind schnellt los und verarbeitet die arme Sau mittels Hörnern und Hufen zu einem schwarz-roten Brei.

Nun ist es nicht etwa so, dass Wisente notorische Schlägertypen sind; selbst die polnischen Wildhüter hatten so einen Angriff noch nie gesehen. Aber die Hochsauerländer Wisentgegner hatten nun den Bildbeweis: Die Wittgensteiner wollen Bestien ansiedeln, die obendrein auch noch unsere wertvollen Bäume zerfetzen.

Die Fotos mit dem volleyballgleich umherfliegenden Wildschweinbatzen sind natürlich auch in der Wittgenstein-Berleburg’schen Rentkammer bekannt, dem Forstamt des adligen Waldbesitzers, der 90 Prozent des Wisentreviers zur Verfügung stellen will. Im Obergeschoss eine endlose Reihe enormer Rothirschgeweihe, oberarmdicke Stangen. Solche Zwanzigender könnten in Sekundenbruchteilen einen Gewichtheber forkeln, wie der Waidmann sagt.

So denkt man, und plötzlich schießen vier schwarze Labradors aus der Rentkammer, gefolgt von Prinz Richard zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg in Outdoorkluft. Nachdem er die Hunde zur Ordnung gerufen hat, erzählt er, wie er in einem schwedischen Großgehege zwischen Wisenten spazieren gegangen sei. Vor Menschen hätten die nämlich Respekt, sie versteckten sich nicht hinter Bäumen, um Wanderern aufzulauern.

Westlich von Polen leben Wisente bislang hinter Elektrozäunen oder in Zoos. Oder in einem der Wildparks, etwa in Ludwigshafen, wo ein TV-Team den Experten Uwe Riecken vor dem Wisentgehege drapiert hat. Der Mann vom Bundesamt für Naturschutz ist ein Vordenker in Sachen „Neue Wildnis“. Die ist bislang nur ein fernes Ziel, das Biotopschützer zum Schwärmen bringt. Aufgelassene Truppenübungsplätze oder Tagebaureviere: Da könnte man halbwilde Heckrinder, also rückgezüchtete Pseudoauerochsen, und urtümliche Pferderassen hineinschicken, bis die Tiere völlig „de-domestiziert“ sind. Dann wäre das menschenleere Gebiet reif für die Rückkehr der Elche – und der großen Raubtiere.

Die Bevölkerungsentwicklung in Ostdeutschland sei ja durchaus günstig für solche Projekte, meint Riecken. Aber auch im Westen gebe es geeignete Gebiete. Der Wisent etwa könnte zum „Alleinstellungsmerkmal“ des Rothaargebirges werden, sagt der Naturschützer im schönsten Marketingdeutsch. Bei den Lausitzern zieren die Wölfe ja sogar schon Schnapsflaschenetiketten.

Vermutlich wird es in Deutschland nie so weit kommen wie in der rumänischen 300 000-Einwohner-Stadt Brasov, wo Wolfsrudel durch die banlieue streifen und Braunbären einen ganzen Stadtteil belagern. In unseren Städten wird es wohl bei Waschbären, Füchsen und Wildschweinen bleiben. Aber wenn wir die Ballungsräume verlassen und ins Freie ausschreiten, könnte sich etwas ändern. Fast überall in Europa leben ja bereits Wölfe, Bären oder Luchse – kleine Gruppen in Frankreich, Spanien, Italien, ganze Armeen im Osten und Norden.

Sicher ist es schön, dass es bei uns Mittelspechte und Mopsfledermäuse gibt. Und es ist bemerkenswert, dass sich nicht nur pensionierte Lehrer um sie kümmern, sondern auch Schriftsteller und Popgruppen vom Glück des Findens am Wegesrand künden. Aber sie sind spät dran. Die Zeit der kleinen Dinge war gestern. Was wir bald brauchen werden, ist ein deutscher Jack London.

Lutz Herrschaft

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