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Michael Ondaatje, 1941 auf Sri Lanka geboren.

© Bart Michiels/Rolex

Neuer Roman von Michael Ondaatje: Die Schatten von Vermutungen

Kindheit unter Bomben und zwischen Trümmern: Michael Ondaatje setzt mit dem Roman „Kriegslicht“ seine Reise in erzählerische Grauzonen fort.

Als 1940 beginnt, was die Briten „the Blitz“ nennen, gehen in London die Lichter aus. Um sich vor den Bombern zu schützen, wird die öffentliche Beleuchtung rigoros minimiert. „Kriegslicht“ ist der Finsternis nah und endet nicht mit dem Waffenstillstand. „Im Jahr 1945 gingen unsere Eltern fort und ließen uns in der Obhut zweier Männer zurück, die möglicherweise Kriminelle waren.“ Nathaniel, der Ich-Erzähler von Michael Ondaatjes neuem Roman, ist 14, seine Schwester Rachel 16.

Sie sind keine Kinder mehr, aber auch weit davon entfernt zu begreifen, was ihnen geschieht. Wohin verschwinden die Eltern und warum? Kennen sie die zwielichtigen Freunde der beiden Männer, die nun in dem bislang so bürgerlichen Haus ein und aus gehen? Hätten sie die Ausflüge zu Hunderennen und Schmuggelaktionen gebilligt? Schon bald wird klar, dass Rose, die Mutter, ihrem Mann nicht, wie behauptet, nach Singapur folgte, sondern in ein eigenes, gefährliches Leben aufbrach.

Jugend voller Abenteuer

Ihr Verschwinden beschert den Geschwistern eine Jugend der Abenteuer. Tagsüber besucht Nathaniel die Schule, aber danach ist er mit dem „Boxer“, wie er seinen Hüter nennt, durch das dunkle Nachkriegslondon unterwegs zu Geschäften jenseits der Legalität. Freundschaft mit Gleichaltrigen darf er nicht schließen – sein Alltag ist ihm selbst verdächtig. Auch das Mädchen, mit dem er die erste Liebe erlebt, lässt er im Ungewissen. Bedrohliche Zwischenfälle mehren sich, bei einem dramatischen Überfall stirbt einer der Beschützer. Doch plötzlich ist die Mutter wieder da.

Dies hellt das Dunkel nicht auf. Rose schweigt, bald darauf wird sie ermordet, offenbar ein Racheakt. „Man hat uns beschädigt“, sagt Rachel, die nach der Rückkehr der Mutter den Kontakt zu ihr verweigert und eine eigene Familie gründet. Aber Nathaniel will sich nicht lösen. Er glaubt, dass er seine Mutter lieben muss, um zu verstehen, wer sie war.

Damit lenkt er das Augenmerk von der Schuld auf die Vergebung und von den kargen, widersprüchlichen Tatsachen auf die Art, wie sie erzählt werden könnten. Da er weiß, „wie man aus einem Sandkorn oder dem Bruchstück einer Wahrheit eine ganze Geschichte“ entwickeln kann (und darin seinem Autor gleicht), erfindet er Verknüpfungen und Absichten, die Roses Handeln vorstellbar und verständlich machen. Zwar gibt er zu, dass andere Versionen denkbar sind, doch seine eigene, mit so viel Empathie erzählte ist naturgemäß die glaubwürdigste. Möge es doch so gewesen sein! So nachvollziehbar, so schmerzlich!

Fast ein Spionagethriller

„Kriegslicht“ ist ein Roman über Menschen in einer Grauzone, deren Kommunikation aus Andeutungen und Verweigerung besteht. Keine Figur öffnet sich der anderen rückhaltlos, niemand rechtfertigt sein Tun, überall walten Schatten und Vermutungen trotz der clues, die ab und zu aufleuchten. Während der kurzen Zeit, in der sie zusammenleben, drängt Nathaniel die Mutter, über ihr verborgenes Leben zu sprechen. Hat sie für den Secret Service gearbeitet? Sie antwortet: „Meine Sünden sind vielfältig.“

Nathaniel nimmt es hin, aber der Leser zuckt zusammen. Was für eine Phrase! Es ist nicht die einzige. Ihr Pathos klingt falsch, ähnlich dem Motto, das dem Roman vorangeht: „Die meisten großen Schlachten werden in den Falten von Landkarten ausgetragen.“ Ein Zitat des Regisseurs und Mystikers Robert Bresson, dem französischen Geistesbruder von Ingmar Bergman. Was der Satz meint, gibt er nicht preis. An einem ähnlich vagen, ähnlich bedeutungsvollen Ort möchte auch Ondaatje seine Geschichte ansiedeln.

Figuren bleiben Skizzen

Das Spannungspotenzial des Spionageromans interessiert ihn jedenfalls nur begrenzt, er konzentriert es auf die Bewegung vom Nichtwissen zum Verstehen. Wichtiger als die Handlung sind die Figuren, deren Beziehungen er skizziert, ohne sie auszuerzählen, denn „wir können immer nur die Oberfläche erkennen“. Der Leser bestimmt den Grad der erreichten Aufklärung durch die eigene Sicht. So entdeckt Nathaniel, dass neben der Spionin Rose ein sympathischer Spion agiert. Doch wird die Liebe der beiden von einem Geheimdienst umklammert, der geradezu lächerlich geheim bleibt und der Bedrohung die Tiefe nimmt. Auf dem Balkan, in Triest und Neapel – überall nebulöse Operationen, deren Akteure sinnlos durch die Landschaft huschen. „Große Schlacht“, „Falten der Landkarte“ – aber im Grunde wirken sie wie Sandkastenspiele.

Wer Michael Ondaatjes Weltbestseller „Der englische Patient“ kennt, wird sich durch „Kriegslicht“ daran erinnert fühlen: zweideutige Figuren, erfüllte und unerfüllte Liebe, nachhallender Weltkrieg, Chaos, Tod und Gefahr. Andererseits ist London nicht Kairo, Suffolk nicht die Toskana, die Beziehung von Mutter und Sohn kein Ersatz für das Knistern zwischen Mann und Frau.

Triumph beim Man-Booker-Preis

Nach wie vor ist Ondaatje ein Meister der Konstruktion, Seite um Seite ergänzen sich die Details zu einem dichten Geflecht. Ein Thema wird angeschlagen und durchgeführt, Hunde und Papageien haben ihre Auftritte, Landkarten aller Art werden befragt. In dem Erinnerungsbild, das der junge Nathaniel von seiner Mutter bewahrt, hält sie ein heißes Bügeleisen in der Hand, der Roman endet mit einer Szene des bügelnden Sohnes. Auch Scherze gibt es: Rose ist beunruhigt, weil ein Schriftsteller aus der Karibik sich „zur Recherche“ in dem Dorf niederlässt, in das sie sich zurückgezogen hat. Ist es V. S. Naipaul oder Ondaatje selbst? Viel Grund zu lächeln und eine perfekte Vorlage für Creative-Writing-Seminare.

Im Juni hatten englischsprachige Leser Gelegenheit, aus einer Shortlist von fünf Romanen, die fünf Jahrzehnte Man-Booker-Preis repräsentieren, das ihrer Meinung nach beste Buch auszuwählen. Den „Golden Booker“ gewann „Der englische Patient“, erschienen 1992. Bei der Preisverleihung verwies Ondaatje auf die mit Oscars überschüttete, populäre Verfilmung als Ruhmesstütze für das Buch. Beide, Film und Buch, hatten den hohen Ton gemein, das Streben nach Tragik und Abgrund. Unter glühender Sonne kämpften die Figuren auf schwer bedeutsame Weise um Liebe und Leben. Sollte dieses Grundmuster nicht ins Dämmerlicht der englischen Nachkriegszeit übertragbar sein? Die Glorie ist unwiederholbar.

Michael Ondaatje: Kriegslicht. Roman. Aus dem Englischen von Anna Leube. Hanser, München 2018. 320 S., 24 €.

Gisela Trahms

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