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Meister der harten, vertrackten Prosa: Der Schriftsteller Reinhard Jirgl.

© dpa

Neuer Roman von Reinhard Jirgl: Heute, ein verlängertes Gestern

Multiple Erzählstimmen und ein zerklüftetes Nach-Wende-Deutschland: Reinhard Jirgl seziert in seinem Roman „Oben das Feuer, unten der Berg“ die Härten der deutsch-deutschen Geschichte.

Wer mit Reinhard Jirgl in den Roman geht, der betritt ein vielfach aufgeladenes Gelände. Hier ist keine Stimme unvermittelt zu haben, und kein Bild schiebt sich direkt vor die Augen. Vielmehr treffen wir auf brüchige Landschaften und auf die trickreiche Sprache der Straße, wir treffen auf Wörter, die in mehrere Bedeutungsstränge spleißen, und auf die Schichten der Vergangenheit, die sich endlos überlagern. Mit einem anderen Autor gesprochen: Manchmal kann man hier tatsächlich auf dem Kopf gehen, es mag einem als Leser angenehm sein oder nicht.

In seinem neuen Roman tastet Jirgl der DDR nach. Jenem Staat, in dem er selbst sein halbes Leben verbracht, unter dessen Strukturen er bis zuletzt gelitten hat – und den er schon in so vielen seiner Romane seziert hat. Wieder unternimmt Jirgl den Versuch, die einzelne Geschichte und die große geschichtliche Perspektive, den Sinn für Details und das Bewusstsein für Deutungen miteinander zu verschränken. Doch zugleich geht der Blick in die Zukunft, so bindet Jirgl das neue Buch an seinen zuletzt erschienenen Roman „Nichts von euch auf Erden“ (2013), eine gewaltige Dystopie, deren Sphären von Grausamkeit bestimmt sind, von Unterdrückung und Krieg.

Nicht weniger kalt als die zukünftige Welt auf Erde und Mars ist die Atmosphäre in Jirgls DDR. In mehreren Anläufen entwirft der Büchnerpreisträger eine zerklüftete Familiengeschichte um die Geschwister Theresa und Willfried, nach und nach zeigt Jirgl, wie sehr die Figuren von den Verwerfungen deutsch-deutscher Geschichte betroffen sind. Enteignung und Zwangsumsiedlung, Stasi- und Funktionärsgeflechte, Verrat, Gefängnis und staatlich oktroyierter Mord. Theresa verliert ihre wissenschaftliche Stelle und landet wortwörtlich im Dreck, weil sie bei ihren Recherchen Materialien zu einem geheimen Weltall-Projekt entdeckt hat. Willfried, „das-kriminelle-Kind“, wird von einer Organisation namens „KOZERO“ angeworben, der „Kommerziellen Zersetzung der Opposition in der DeDeR“.

Alles Begehrliche in einem Topf

Zwischen all diesen inhaltlichen und narrativen Fäden versucht, ein Polizist zu vermitteln. Es ist ein aus Hannover stammender Kommissar, der nach 30 Jahren Mordkommission seine Ängste immer weniger kontrollieren kann. Im Revier am Berliner Alexanderplatz geht er mit seinem Kollegen Möller einer Mordserie nach, die ihn zu Theresas Familie führt. In seinem Inneren darauf bedacht, die Staaten von ihren Verbrechen her zu verstehen, will er die gefundenen Bruchstücke prüfen und ordnen. Sie zusammenzufügen, gelingt ihm nicht, aber er kommt staatlichen Machenschaften auf die Spur, die mit dem Freikauf von DDR-Bürgern durch die BRD zu tun haben.

„Unsichtbar alle Tode“, lesen wir einmal, „verwandelt zu elektronischen Signalen, pulsend Ohnepause durch pralle Bündel Glasfaserarterien im Großennetzwerk des hygienischen Weltdauerfriedens“. Es ist spannend zu sehen, wie Jirgl hier Ideen erzählerisch ausformt, die er schon vor 20 Jahren in einem Aufsatz aufgefaltet hat: „Die Weltumarmung, das Internet. Das real werdende Phantasma – Jeder kann mit Jedem reden! –, die globale Datenvernetzung ... Unterschiedslos die Speicherung und Zirkulation Daten, Plus und Minus, Groß und Klein, alles Begehrliche in einem Topf“. Den Vorstellungen eines einlullenden digitalen Friedens stellen Jirgls Figuren die Idee an die Seite, das Heute sei nichts anderes als ein verlängertes Gestern. Von der Struktur her unterscheiden sich der DDR-Sozialismus, das „Dritte Reich“ und das westliche Versprechen auf Demokratie und Freiheit nur wenig. Die Götter wechseln, aber Filz und Unterdrückung bleiben. Die Zeit nach 1989 heißt hier nicht „Wende“, sondern „GeBeU“, „Großer-Bürokratischer-Umbau“.

Ein Thesenroman ist Jirgls Roman keineswegs. Von der „Eingeweidesympathie“ hat er in seiner Büchnerpreisrede geschrieben, von einer Kunst, die den ganzen Organismus befeuern müsse, das Herz, das Hirn, die Nervenstränge und die Zellen. Der Leser muss gleichsam durch die Form, durch die Konstruktion des Romans hindurchgehen. Erst die geschichteten Stimmen, erst die Sprache und der Bau können die Sinnlichkeit freisetzen. Deshalb die mal umgangssprachlich, mal expressionistisch angehauchten Bilder. Deshalb die zerhackten oder neu zusammengesetzten Wörter. So schafft Jirgl seine „harte“ Sprache, eine bis auf die Knochen dringende Diktion des Sinnlichen, des Körpers.

Das Herz ist die Erinnerung

Die Gegenwart des Erzählens ist das Jahr 2012. Doch sein eigentliches Herz ist die Erinnerung. Der Klappentext verweist auf das I-Ging, das mit der Figur des Hexagramms arbeitet. Jirgl schreibt seinen Roman in sechs Kapiteln. Vielleicht genügt aber auch der Hinweis, dass Jirgl durchwegs unterschiedliche Perspektiven ineinanderschneidet (sind es sechs Stimmen? Oder doch sieben, acht, neun?).

Angestückt wirkt einzig der Versuch, in der Erzählung des indonesischen Diplomatensohns Orfan Batt zugleich die aktuellen Fluchtgeschichten einzuholen: „Flu?chtlinge sollen Flu?chtlinge bleiben, niemand will sie bei=sich haben“. Eine Melange harter, pessimistischer Töne bestimmt den Roman, voller Störmomente und harter Klänge. So ergeht es einem als Leser am Ende selbst wie einer der Figuren: „unversehens wie Treibgut hin1gestoßen ... in Stromschnellen eines & anderer Menschen Lebensstrom“.

Reinhard Jirgl: Oben das Feuer, unten der Berg. Roman. Hanser Verlag, München 2016. 284 Seiten, 22,90 €.

Nico Bleutge

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