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70. Berlinale: Neuer Wettbewerb „Encounters“ startet mit starken Weltpremieren

Historisches Sittengemälde in „Malmkrog“, Jugendliche vor dem Abi in „Nackte Tiere“: die neue Berlinale-Wettbewerbsreihe „Encounters“.


Katja, Sascha, Benni, Laila und Schöller – fünf Jugendliche vor dem Abi in einer Kleinstadt in Brandenburg. Edouard, Madeleine, Nikolai, Olga, Ingrida – fünf noble Herrschaften auf einem verschneiten Landsitz in Transsylvanien, Ende des 19. Jahrhunderts. Die ersten Filme der neuen Wettbewerbsreihe „Encounters“ im Rahmen der Berlinale sind denkbar verschieden und weisen doch verblüffende Gemeinsamkeiten auf: „Nackte Tiere“, das Langspielfilmdebüt der Dffb-Absolventin Melanie Waelde, und „Malmkrog“, ein Kostümfilm von Cristi Puiu, eröffnete die Sektion.

Jedes Mal eine Peergroup, eine verschworene Gemeinschaft, fünf Menschen, die sich balgen. Die einen auf der Turnmatte, die anderen mit Wortgefechten. Körper und Intellekt, Innenleben, keine Außenwelt. Hier wie da ist es die Zeit zwischen den Jahren, hier wie da spielt die Kamera eine heimliche Hauptrolle.

Man parliert auf Französisch über Krieg und Religion

Bei Puiu bewegt sie sich diskret um Nikolais Gäste herum, die der Großgrundbesitzer über die Weihnachtstage eingeladen hat, darunter einen Politiker und eine junge Gräfin. István, der sieche General, liegt im Nebenzimmer im Bett, ein Abwesender, der sechste im Bunde. Man parliert auf Französisch, über Krieg und Religion, das Töten und die Moral, Europa, Russland, den Antichristen.

Zu den schönsten Momenten dieses 200-Minuten-Films gehören die Choreografien der Dienstleute, ihre Auf- und Abtritte und diskreten Interventionen. Mit ihnen spricht Nikolai Deutsch. Choreografierte Bewegungsabläufe, Menschen beim Reden zusehen, davon lebte schon Puius letzter Film "Sieranevada".

Zimmerfluchten, geschlossene Gesellschaft, ein Sittengemälde: Puiu, der mit der Tragikomödie „Der Tod des Herrn Lazarescu“ das „rumänische Filmwunder“ eines neuen Autorenfilms auslöste, ist für seinen dokumentarischen Realismus bekannt. Diesmal erprobt er ihn an einem historischen Text, „Drei Gespräche“ des Religionsphilosophen Wladimir Solowjow.

Im Herrenhaus von Nikolai (Frédéric Schulz-Richard, rechts) parliert man über Krieg und Religion.

© Mandragora

Die Handlung tendiert gegen Null, sieht man von einem mysteriösen Zwischenfall ab, bei dem Schüsse fallen. Ein Festtagsspaß mit Platzpatronen? Während die elaborierten, vollendet höflich ausgetragenen Dispute (die für Nicht-Franzosen reichlich Untertitel-Lektüre bedeuten) nach gut zwei Stunden in der amüsiert-arroganten Ausgrenzung der Gräfin kulminieren, tritt auch die Brutalität der Hackordnung zwischen Herrschaft und Personal zutage. So entsteht in aller Stille das Bildnis einer Klassengesellschaft. Die Bauern sind nur von draußen zu hören.

Einblick in die Welt von Teenagern in der Provinz

Bei Waelde bleiben die Erwachsenen draußen. „Nackte Tiere“ gibt Einblick in die geschlossene Welt von Teenagern in der Provinz. Katja (Marie Tragousti) ist Jiu-Jitsu-Sportlerin, sie steckt Schläge ein, lernt, was Deckung bedeutet, und bleibt doch schutzlos. Hinterher geht es gemeinsam zur Ambulanz, um die Platzwunde nähen zu lassen.

Ein Leben aus dem Rucksack, zwischen Plattenbauten und der Bude von Freunden: Waelde drängt ihre Protagonisten ins fast quadratische 4:3-Bildformat zusammen. Und auch hier ist die Kamera eine von ihnen, so fahrig und unruhig, als werde mit dem Handy gefilmt. Der dokumentarische Realismus von heute.

[Malmkrog“: 22.2., 19.45 Uhr (Cubix 6), 23.2. 18,30 Uhr (HdBF), 29.2., 12.30 Uhr (Cinemaxx 7) „Nackte Tiere“: 22.2., 1715 Uhr (Cubix 6), 23.2., 22 Uhr (International), 1.3., 20 Uhr (Urania)]

Fin de siècle in hochgeschlossenen Kleidern, Aufbruch ins Leben mit nackter Seele: Fünf Menschen halten zusammen und bleiben sich doch fremd. Alle Menschen sind Brüder, aber man möchte schon wissen, wer Kain und wer Abel ist, heißt es in „Malmkrog“. Und in „Nackte Tiere“ sagt Benni zu Katja: „Du rennst vor den Sachen weg, ich gehe erst gar nicht hin.“ Verharren oder Weggehen: Die Sprach- und Moralcodes verbinden, setzen aber auch Mechanismen der Ausgrenzung in Gang.

Die beiden ersten der insgesamt 15 „Encounters“-Beiträge markieren extreme Positionen. Ein Historientableau, eine flackernde Nahaufnahme. Beide verweigern das gewöhnliche Erzählen, stellen die Zeit still, flüchten mit ihr. Früher wären die Filme wohl im Forum gelaufen.

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