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Kultur: Neunmal träumen

Finster ist die Erde, ungemütlich und kalt. Dunkel verhüllte Weiber huschen vorüber, schleppen Wasserkessel.

Finster ist die Erde, ungemütlich und kalt. Dunkel verhüllte Weiber huschen vorüber, schleppen Wasserkessel. Es dampft und brodelt, Kuhglocken bimmeln, Schafe blöken. Unter einem Flickenteppich stöhnt eine Frau, preßt aus ihrem riesig aufgeblähten Bauch ein rotgesichtiges, höllisches Ungeheuer hervor, das eine tönerne Figur in den Händen hat. Noch ist Adam tot. Doch schon haucht der sich auf einer Leiter vom Himmel herunterhangelnde Gott dem lehmigen Kerl Leben ein, spendiert ihm sogar noch eine mit Äpfeln geschmückte Eva. Natürlich essen die beiden mit Fell behängten Urgeschöpfe von den verbotenen Früchten und fliegen raus aus dem Paradies, während ein meckernder Gott die Leiter emporsteigt und die verdatterten Sünder im Dunkeln stehen läßt.

Zwischen Gott und Mensch hat sich der Teufel geschoben, das Paradies ist für immer verloren. So sieht er aus, der erste Traum, den die Theaterwerkstatt Sfumato träumt. Die sich als Bühnen-Laboratorium verstehende, den Probenprozeß und nicht die fertige Inszenierung in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellende bulgarische Truppe von Margarita Mladenova und Ivan Dobtchev träumt in achtzig Minuten neunmal. Daß sich ihr beim Theater der Welt erstmals in Deutschland präsentierter "Apokryph" dabei aus der allgegenwärtigen Finsternis ins Licht der Erkenntnis erhebt, bleibt allerdings eine trügerische Hoffnung.

Sfumato stochert in den verborgenen Schriften der nicht zur Bibel gehörenden urchristlichen Legenden und Geschichten, möchte das, was unsichtbar ist, erkennbar machen. Wo die Sprache zum Klanginstrument und der Text zur Dada-Sinfonie wird, haben mythenbeladene Bilder Konjunktur. Weiber schrubben unter chorischem Gestöhne und Gebrabbel Samen und Sünden weg, Gesänge und Gebete begleiten die zwischen diesseitigen Versuchungen und jenseitigen Wünschen ziellos zerriebenen Menschen in eineMassenorgie. Irgendwie scheint auch ein Weg von Sodom und Gomorrha zum lehmigen Golem zu führen. Von irgendwoher hallen dumpfe Trommeln, ein Stein senkt sich auf die von rituellen Beschwörungen erschöpften Menschen herab. Alles ist bedeutungsschwanger und bibelschwer, doch nirgendwo findet der ermattet ins finstere Mythenland starrende Zuschauer einen Zugang zum apokryphen Oratorium. Die Träume von Sündenfall und Gottessuche bleiben theatralische Alpträume. Wenn die ängstlichen Frauen wieder einmal einen Menschen aus Lehm kneten und ihn mit einem Korb gen Himmel senden, hofft man nur noch, daß der gekränkte Gott von seiner Leiter steigt und dem Spuk ein Ende macht.

Theater am Halleschen Ufer, noch einmal heute, 20 Uhr.

FRANK DIETSCHREIT

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