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Einsamer nie. Caspar David Friedrichs „Mönch am Meer“ (1808-1810).

© Wikipedia/Google Art Project

Neuer Novellenband von Hartmut Lange: Niemand kann bezeugen

Ein literarischer Ausflug voller Atmosphäre und geheimnisvoller Beziehungen: Mit „Prorer Wiek und anderswo“ beweist Hartmut Lange erneut seine Virtuosität als Novellenerzähler.

Die literarische Form der Novelle bietet dem souveränen Autor große Freiheiten. Unwahrscheinliche und traumhafte Elemente können einfließen, wenn ein in seinen Wahrnehmungen unsicheres Ich die Geschehnisse beschreibt. Gleichzeitig muss der Anschein der Glaubhaftigkeit gemäß den Regeln des Genres gewahrt bleiben. Der Berliner Novellen-Künstler Hartmut Lange, Jahrgang 1937, versteht es, zwischen diesen Polen ein surrealistisches Spannungsfeld zu entwerfen. Außerdem liebt er das Gedankenspiel. Und so leistet er sich den Spaß, Caspar David Friedrichs Gemälde „Mönch am Meer“ aus der Enge seines Bilderrahmens in der Alten Nationalgalerie zu befreien und es an den Ostseestrand zu versetzen.

„Ich bemerkte Einzelheiten“, heißt es, „die auf dem Gemälde nicht zu erkennen waren. Er hatte tiefliegende Augen und die rotblonden Haare waren im Nacken rasiert. Ob das lange Gewand, das er trug und dessen Saum über die Erde schleifte, eine Kutte war, wusste ich nicht zu sagen.“ Der Ich-Erzähler gesteht, dass seine geschiedene Frau oft mit seinen „Extravaganzen“ zu kämpfen hatte und dass manches vielleicht nur seiner Einbildungskraft entspringe. Und gleichzeitig befallen ihn schreckliche Skrupel: „,Wie kann ich jemandem‘, dachte ich, ,den man für die Räume eines Museums geschaffen hat, raten, sich in der Welt umzusehen. Man weiß doch, wie mörderisch sie im Augenblick aussieht.‘“

Lange beherrscht das kunstvolle Erzählen

Vier der zehn Novellen aus dem Band „An der Prorer Wiek und anderswo“ spielen an der Ostsee, fünf haben Rom und dessen Kunst- oder Literaturgeschichte zum Schauplatz. Lange hat jenes changierende Erzählen zwischen Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit in vielen Jahrzehnten zur eigenen Kunstform erhoben. Mit wenigen Sätzen erfindet er Figuren, baut literarische Gerüste voller Atmosphäre und geheimnisvoller Beziehungen. So braucht es zu Beginn der Novelle „An der Spanischen Treppe“ nur den Halbsatz „Und so konnte niemand bezeugen …“, um das Beschriebene in einen Schwebezustand zu überführen. Präzise Ortsbeschreibungen erzeugen die notwendigen Kontraste für Langes Fantasiestücke: Hier sind es die Touristenmengen auf der Spanischen Treppe, das Menschengewühl an der Via Condotti. Das ist eigentlich nicht der Raum, aus dem heraus sich eine Begegnung zwischen Lebenden und Toten entwickeln könnte.

Doch plötzlicher Schneefall lässt die „Ewige Stadt“ in anderem Licht erscheinen und bringt den Steine werfenden englischen Dichter William Keats zum Vorschein: „Das Jabot war offen, beide Enden hingen ihm bis zur Taille hinab, und er schien erregt zu sein, bückte sich hierhin und dorthin, um Mauerreste, die herumlagen, aufzusammeln. Es waren faustgroße Brocken, die er gegen das Fenster eines Gebäudes schleuderte. (…) ,Ich wünsche keine Gedenkstätte!‘, rief er noch.“

Ein Mädchen spricht mit ihrem Schatten

Der Protest des wiederauferstandenen Dichters gilt dem Museum, das man zu seinen und Shelleys Ehren eingerichtet hat – obwohl man zu Lebzeiten die Verse von Keats in England nicht zu würdigen wusste: „Die Mitwelt hatte ihn verachtet, die Nachwelt feierte ihn als genialen Dichter. Aber was, um Gottes willen, konnte er dagegen tun? Er gab sich alle Mühe.“

Eine Ausnahmestellung nimmt die Novelle „Emilys Schatten“ ein, eine tragische Geschichte über Schulmobbing. Der Schatten – das ist das Einzige, worauf sich die schüchterne Emily in ihrem Schulalltag voller Quälereien verlassen kann. Er flüstert dem Mädchen Mut ein, wenn sie an den gehässigen Mitschülern vorbeigehen muss. Schließlich fängt sie vor lauter Einsamkeit sogar an, mit ihrem Schatten zu sprechen. Doch die fixe Idee, mit einem stärkenden Schatten im Rücken eine quälende Lebenssituation zu bewältigen, ist zum Scheitern verurteilt.

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