zum Hauptinhalt

Kultur: Nimm mich mit, Dirigent, auf die Reise

Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker triumphieren in Salzburg mit Benjamin Brittens Nordsee-Oper „Peter Grimes“

Und der Himmel hing voller – Wolken. Salzburg, sonst eher auf Geigen spezialisiert, hat sich rechtzeitig zur Osterfestspiel-Premiere von Benjamin Brittens Nordsee-Drama „Peter Grimes“ eine Regenhaut übergestreift. Unablässig prasseln Tropfen auf das Altstadt-Pflaster, die sonst so liebliche Salzach hat sich in einen reißenden, braungrauen Strom verwandelt – und vermittelt plötzlich eine Ahnung von der Naturgewalt, mit der sich die Leute in Brittens Oper täglich konfrontiert sehen. Die Fischer haben es nicht leicht an der britischen Westküste, in ihren winzigen Nussschalen trotzen sie dem Meer gerade so viel ab, dass es zum Überleben reicht. Peter Grimes, einer der ärmsten unter ihnen, begegnet dem harten Leben mit noch mehr Härte: gegen sich selbst, aber auch gegen seine Lehrjungen, von denen zwei dabei zu Tode kommen. Je verbissener Grimes um Anerkennung kämpft, desto mehr wird er zum Außenseiter, bis ihm nur der Selbstmord auf offener See bleibt.

Brittens 1945 uraufgeführter Opernerstling zählt zu den ganz großen Musiktheaterwerken des 20. Jahrhunderts und ist doch noch nie in Salzburg gezeigt worden. Ausgerechnet Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker holen dies nun nach. Weil er seinen eigenen „Ring des Nibelungen“ schmieden wollte, hatte Herbert von Karajan das Frühjahrsfestival 1967 gegründet. Bevor Rattle ab 2007 mit dem Regisseur Stéphane Braunschweig ebenfalls Richard Wagners Tetralogie anpackt, setzt er zwei starke Akzente, mit Werken, die nicht dem Kanon der Alltime Favorites zuzurechnen sind: Auf „Peter Grimes“ folgt Ostern 2006 Debussys „Pelléas et Mélisande“ — das muss man sich erst einmal trauen, an einem Ort, wo Oper zum Realkostenpreis angeboten wird, die Tickets also zwischen 170 und 470 Euro kosten.

Von der Regie waren darum kaum weitere Heldentaten zu erwarten. Wohl auch mit Blick auf den Kooperationspartner, die ultrakonservative New Yorker Metropolitan Opera, entscheiden sich Rattle und sein Regisseur Trevor Nunn für ungehemmten Naturalismus. Nunn, der neben seiner Opernarbeit und der Leitung der Royal Shakespeare Company viel für das Londoner West End gearbeitet hat, weiß, wie man so etwas macht. Zuerst lässt er sich von John Gunter historisch korrekte Kostüme aus der Zeit um 1850 entwerfen. Dazu kommen hübsche Fassaden-Attrappen für die Kleinstadtbewohner, gigantische Pappmachée-Felsen und jede Menge Requisiten vom Plastikfisch bis zum funktionstüchtigen Einmaster. In diesem Cinemascope-Bühnenbild drapiert er Protagonisten und Chor wie Figürchen auf einem Genregemälde. So, wie er auch jedes x-beliebige Musical inszenieren würde. Hochprofessionell schnurrt die Theatermaschinerie ab, und das beglückte Publikum jubelt: „Ich glaub, ich bin im richtigen Film!“

Das einzige, was hier fehlt, ist der Wille zur Interpretation. Nunn versucht gar nicht erst, die gespaltene Persönlichkeit des Peter Grimes zu hinterfragen. Ihm ist es wichtiger, dass der Titelheld im millimetergenau berechneten Bühnenarrangement eine gute Figur macht. Darum werden aus den Sängern an diesem Abend auch keine Charaktere. Sie bleiben Abziehbilder, genau wie die Solisten in den Kommerz-Musicals. Die Salzburger Festspielbesetzung ist exquisit, zweifellos, mit Robert Gambill als Grimes, Amanda Roocroft als Ellen, Jane Henschel als kugelrunder Kneipenwirtin und den von Simon Halsey perfekt präparierten „London Voices“ als Chor. Doch wenn es selbst ein knorriger Charakterdarsteller wie John Tomlinson nicht schafft, der spannenden, weil ambivalenten Figur des Balstode über den regieseitig abgeforderten Käptn-Iglu-Charme hinaus Individualität zu verleihen, macht das schon nachdenklich.

So liegt die Deutungs-Hoheit an diesem Abend ganz bei Simon Rattle, und er nutzt sie: Es ist pure Energie, was den Hörer aus dem Orchestergraben anspringt. Die Berliner Philharmoniker sind wie der Himmel nach dem Sturm: blankgefegt, strahlend, grenzenlos. Scharf und unerbittlich toben die Seelenstürme, mit atemberaubender Flexibilität wechseln die Musiker von Grimes’ introvertiertem Monolog zum Gekeife der aufgebrachten Spießer und zurück. Wie einfühlsam Britten als Komponist dem möglichen Gefühlsleben seiner Protagonisten nachspürt, wie klug und klanglich differenziert er sich gegen billige Gut-Böse-Schemata verwahrt, macht Rattle als rhetorisch brillanter Anwalt dieser Partitur deutlich. Wenn sich der Mob aufmacht, um den Außenseiter zu lynchen, schickt die Regie den Chor ganz vorne an die Rampe, lässt ihn seine Fackeln, Gewehre und Hellebarden vorzeigen. Solchen Mummenschanz macht Rattle natürlich nicht mit. Stattdessen reißt er die Lautstärke hoch, bis die Schreie des Volkes zu Vokalexplosionen werden: „Peter Grimes!“, Totenstille, „Peter Grimes!“.

Spätestens jetzt schleicht sich wieder ein Gedanke ein, der den Kritiker schon bei früheren Musiktheaterprojekten der Berliner Philharmoniker piesackte: Ist dieses grandiose Orchester überhaupt in der Lage, beim Gesamtkunstwerk Oper mitzumachen, ohne die übrigen Beteiligten zu überstrahlen? Wer, um alles in der Welt, soll da mithalten können!

Simon Rattle und die Philharmoniker spielen „Peter Grimes“ am 6. und 8. April konzertant in der Berliner Philharmonie.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false