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Kultur: Nur das unsichtbare Bild zählt

Alexander Kluge über den Philosophen Adorno, den 11. September und die Flaschenpost der Kritischen Theorie

Herr Kluge, heute wäre Theodor W. Adorno 100 Jahre alt geworden. Und heute vor zwei Jahren erlebten die USA einen grauenvollen Terroranschlag. Können Sie sich vorstellen, wie Adorno auf den September reagiert hätte?

Sicher hätte Adorno gesagt, das gehört zu den großen Menetekeln. Und er hätte längere Ausführungen darüber gemacht, was ein Menetekel ist. Das Menetekel verkündet den Königen ihr Ende. In New York ist das Menetekel demokratisiert. Es wendet sich an uns alle. Das macht es unheimlicher. Adorno würde versuchen, eine Theorie zu entwickeln, was die Schrift an der Wand in Babylon und die zwei Flugzeuge, die in ein Hochhaus stürzen, voneinander unterscheidet und was die Geschehnisse verbindet.

Das Menetekel ist ein Zeichen der Götter. Die Terroristen sind keine Götter. Aber ihr Terroranschlag ist vielleicht im ersten Moment genauso unverständlich, nicht rational zu erklären, wie die blinde Gewalt des Schicksals?

Es sind Verschwörer aus guten Verhältnissen, die stellvertretend für das Unglück anderer Terror ausüben. Adorno würde sagen, sie halten sich für Götter, das können sie aber nicht sein. Die Willkür, die darin liegt, dass die Menschen, die in dem Hochhaus arbeiten, so zermalmt werden, das ist etwas, was Adorno zu den großen Unverständlichkeiten der Zeit zählen würde. Wo er sagt: Dies ist gottlos. Gleichzeitig ist Adorno jemand, der wohl an die Existenz von Göttern glaubt.

Wie kommen Sie darauf? Religiös tritt er einem in seinem Werk nicht gegenüber.

Die Abwesenheit von Sinnzwang, die er ja einklagt, wäre eigentlich ein Zeichen dafür, dass es Götter gibt. Ich glaube nicht, dass Adorno etwas bestreitet, was vertrauenswürdige Dichter wie Ovid berichten. Er neigt sehr zu Widerspruch. Wenn Sie sagen, die Götter werden durch die Aufklärung in Begriffe verwandelt und nehmen auf diese Weise säkulare Gestalt an, würde er sagen: Wieso eigentlich? Die Götter haben gar keine Veranlassung, zu rationalen Begriffen zu werden. Was ist denn an der Rationalität rational? So würde Adorno über Götter reden.

In Ihrem neuen Buch, einer Sammlung von 500 Geschichten unter dem Titel „Die Lücke, die der Teufel lässt“ beschreiben Sie die Beerdigung Adornos: „Zwanzig Jahre später hatte der Planet den letzten dieser klugen Köpfe entlassen. Es war nie wieder die gleiche Welt.“ Welche Leerstelle hat Adornos Tod hinterlassen?

Er hat diese Leerstelle nicht alleine hinterlassen. All die Gelehrten, die zu seiner Beerdigung gekommen sind, sind mittlerweile tot. Eine bestimme Form der Kritischen Theorie gibt es nicht mehr. Sie ist nicht wie Dornröschen in einen tausendjährigen Schlaf versunken, sie ist einfach verschwunden. Wenn man aber an einem Menschen die Bewegungsart seiner Gedanken liebt, nimmt man das in sich auf. Insofern sind die Toten nicht tot. Sie leben in den Lebenden weiter. Ich glaube nicht an Verfallszeiten. Die Schriften, die Adorno hinterlassen hat, sind eine Flaschenpost. Irgendjemand wird sie finden und für sich zu nutzen wissen. Man darf sich weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht dumm machen lassen. Das ist ein Satz von Adorno, der sehr alt ist. Er könnte auch bei den Gebrüdern Grimm stehen oder von Anna Wilde stammen. Das war die Frau, die die Arztpraxis meines Vaters in Halberstadt geputzt und ihre acht Kinder aufgezogen hat. Von Anna Wilde habe ich in meiner Kindheit ähnliche Sätze gehört.

Ist das Verschwinden der kritischen Theorie nicht einfach eine Historisierung? In den Fünfziger und Sechzigerjahren stand Adorno für eine radikale Moderne. Zwei Jahrzehnte später nennt Luhmann die Kritische Theorie mokant „alteuropäisch“. Für den Systemtheoretiker, der sich nur für Funktionssysteme interessiert, ist es vormodern, sich an den Beschädigungen des Subjekts abzuarbeiten.

Ich kann den Gegensatz zwischen der Kritischen Theorie und der Systemtheorie nicht so genau erkennen. Rein theoretisch sind das Widersprüche. Aber in der Anwendung, in der Detektivarbeit, sind es beides Verfahren, um die Wirklichkeit zu analysieren. Die Theorien sind Werkzeuge. Ich wünsche mir, dass Luhmann und Adorno miteinander korrespondieren. Luhmann war am Institut für Sozialforschung präsent, er hat sich sehr für die Kritische Theorie interessiert. Für mich war es eine Sternstunde, als Luhmann und Habermas am Max-Planck-Institut zusammengearbeitet haben. Und was die Vokabel „alteuropäisch“ betrifft: Ovid ist auch Alteuropäer.

Zu den Legenden über Adornos frühen Tod gehört auch die, dass ihn die Aktionen radikaler Studenten, die sich von ihm abwandten, seelisch tief verletzt haben. Studentinnen entkleideten sich während einer Vorlesung vor ihm, um den alten Mann zu demütigen.

Das hat ihn schon sehr erschreckt. Kurz vorher war er in Tränengas geraten, das Studenten bei einer Art Happening versprühten. Das war sehr grob, er fühlte sich malträtiert. Nicht für jedes Auge ist Tränengas geeignet. Aber er ist nicht an Kummer über die radikalen Studenten gestorben, das kann ich Ihnen versichern. Er hat darauf auch robust, also mit der Abtötung von Sensibilität, reagiert. Gleichzeitig waren ihm die protestierenden Studenten näher als die gesamte offizielle Bundesrepublik.

Wie würde Adorno auf die eher utopie-fernen Protestbewegungen von heute reagieren? Den Globalisierungsgegnern von Attac geht es um eine Besteuerung der Finanzströme, um einen Dollar mehr am Tag für Leute, die in den Sweatshops der Dritten Welt für Großkonzerne arbeiten. Wäre ihm dieser pragmatische Versuch, einen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz einzuklagen, sympathisch?

Er würde gar nicht darauf reagieren. Adorno würde sagen, dies ist nicht mein Protest. Utopisch heißt ja: an keinem Ort. Man könnte auch sagen: heterotopisch, also an anderen Orten. Er bestreitet ja nicht, dass es den glücklichen Moment nicht in irgendeiner verkapselten Form doch gibt, aber eben woanders. Denn wenn es das Glück nicht woanders gegeben hätte, würden wir das Elend und den Fluch von jetzt nicht erkennen. Was Adorno auszeichnet, ist nicht Klugheit oder die Brillanz des Gedankens oder intellektuelle Raffinesse, sondern eine ganz bestimmte Haltung. Und die geht mit Pragmatik, mit der Ideologie des Machbaren, nicht zusammen.

Wie erklären Sie sich denn die gereizten Aversionen, die Adornos Denk- und Sprachstil, also Sätze wie „Das Ganze ist das Unwahre“, auslöst, heute genauso wie damals?

Ich glaube, die schärfste Aggression geht von denen aus, die ihn gar nicht lesen, die ihn nicht kennen und nie getroffen haben. Es ist erstaunlich, wie viele Menschen gegen Adorno votieren, die nie irgendeine Berührung mit ihm hatten. Es gibt offenkundig auf unserem Planeten Geisterwelten, die einander überhaupt nicht berühren.

Was macht ihn so anders? Oft sieht er so aus, als bewege er sich durch die Welt wie ein Fremdling.

Adorno hat in seinem Leben nie „funktioniert“. Wenn Max Horkheimer es von ihm verlangte, hat er so getan, aber in Wirklichkeit hat er nie funktioniert. Sein Werk hat er hervorgebracht mit der ganzen Kraft, mit der ein Mensch spielt, und überhaupt nicht mit der Fähigkeit, sich selbst zu unterjochen und zu disziplinieren. Ein disziplinierter Mensch, ohne dass er die Gewalt der Disziplinierung an sich anwendet, so habe ich Adorno erlebt.

Wann zum Beispiel?

Wir hatten zum Beispiel die Idee, das Buch, das Adorno im Exil gemeinsam mit Hanns Eisler über Filmmusik geschrieben hat, unter veränderten Perspektiven zu überarbeiten und unter veränderten Perspektiven daran weiterzutreiben. Adorno hielt von Film und Kino gar nichts. Er hat aber den Autorenfilm, vor allem den französischen, respektiert. Es hat ihn gewundert, dass so etwas in der Filmwirtschaft überhaupt möglich ist. Godards „Außer Atem“ fand er leichtsinnig, aber interessant. Etwas zu protestantisch für seinen Geschmack, aber radikal in der ästhetischen Dimension, in der Montage. Es hat ihn interessiert, inwiefern die Montage bei Eisenstein rhetorischer Natur ist und wie im Gegensatz dazu Godards Montage aus der Sache kommt, aus der Unvereinbarkeit zweier Einstellungen. Das Bild zwischen zwei aneinander montierten Bildern, das man nicht sieht, hält den Film in Bewegung. Das ist typisch Adorno, der Gedanke, dass es gar keine Bilder gibt und dass nur das unsichtbare Bild zählt.

Hat er das so formuliert?

Wir haben am Institut für Filmgestaltung einen neunstündigen Film über die Studentenbewegung in Frankfurt gemacht. Adorno sagte uns, man muss blind filmen. Wenn Sie ohne Absicht etwas aufnehmen, werden Sie immer etwas aufspüren. Was das ist, werden Sie erst hinterher sehen. Der absichtslos aufgenommene Film ist klüger als das, was Sie als Absichten haben können. So denkt Adorno.

Fortsetzung auf Seite 26

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