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Wanderer zwischen literarischen und historischen Welten. Der österreichische Schriftsteller Michael Köhlmeier, 67, zeigt wie gegenwärtig die Vergangenheit ist.

© Ekko von Schwichow

„Der Mann, der Verlorenes wiederfindet“ von Michael Köhlmeier: Nur die Liebe erzählt

Michael Köhlmeier begibt sich in „Der Mann, der Verlorenes wiederfindet“ mit Wanderprediger Antonius auf eine Zeitreise. Die Novelle liest sich bereits jetzt wie ein Klassiker.

Der österreichische Schriftsteller Michael Köhlmeier bewegt sich zwischen den verschiedensten literarischen und historischen Welten. In seinen Romanen lässt er Winston Churchill Charlie Chaplin begegnen, mal befinden wir uns im ungarischen Kommunismus der fünfziger Jahre, dann im heutigen Flüchtlingselend, wie in seinem letzten Roman „Das Mädchen mit dem Fingerhut“. In seiner neuen Novelle „Der Mann, der Verlorenes wiederfindet“ tritt Köhlmeier eine etwas längere Zeitreise an, um abermals zu zeigen, wie gegenwärtig auch diese Vergangenheit ist.

Wir befinden uns im heißen Juni des Jahres 1231. Der Wanderprediger Antonius hat seine letzte Reise angetreten. Er möchte in Padua sterben, denn die Reise nach Lissabon, zurück in seine Heimat, ist ihm zu weit, zu beschwerlich. Aber auch Padua scheint unerreichbar. Im Vorort Arcella liegt er ohnmächtig auf einer Pritsche auf dem Platz vor dem Kloster. Als er das Bewusstsein wieder erlangt, sieht er den blauen Himmel und die vielen Menschen, die ihm gefolgt und neugierig sind, ob er noch einmal zu ihnen spricht. Denn Antonius, der bald zum Heiligen gemacht wird, ist ein Meister der Redekunst. Schon zu Lebzeiten ranken sich Legenden um ihn. Seine Reden, die in Stichworten und Skizzen überliefert sind, liefern anschauliche Bilder aus der Natur und dem Alltag der Menschen. Es sind Texte, die, im Gegensatz zur damals üblichen Form und im Gegensatz auch zu den ihm nachgesagten Streitereien mit Häretikern, ganz auf Polemik gegen die Ungläubigen verzichten.

Er will die Vorstellungen der Bibel nicht kritiklos übernehmen

Diese Widersprüche im historischen Bild vom Heiligen Antonius nutzt Köhlmeier, um seine eigene Geschichte zu erzählen. Sterbenskrank vor dem Kloster liegend, zweifelt der Mönch am Glauben. Unerhört! Er denkt über sein Leben nach, und so wird aus einer Heiligengeschichte ein dicht erzähltes Liebesdrama. Auch wenn der erzählerische Rahmen also vom Sterben handelt, so geht es doch vor allem um das Leben, die Kindheit und die große Liebe des Predigers. Geprägt hat den kleinen Antonius, der vor seinem Leben als Mönch noch Fernando hieß, weniger die Bibel als sein Großvater, von dem es heißt: „Er war einer, der gern liebte und gern dachte und lachte, aber nicht kämpfte."

Der Großvater lebt, wie die Familie meint, in Sünde mit einer Schwarzen und ihrer Tochter Bassima, und wie der Opa, so der Enkel. Fernando verliebt sich in Bassima, und, so heißt es pathetisch und schön in dem Text, der wie eine Chronik aus ferner Zeit klingt: „Sie versprachen sich gegenseitig ihr Leben. Sie versprachen sich, auf einander aufzupassen und einander immer schön zu finden." Doch der Großvater stirbt, und damit fehlt der Schutz, den er auch dieser jungen Liebe gewährte. Fernando ist zu schwach, um sich der Familie zu widersetzen. Mit 15 Jahren wird er zu den Augustiner Chorherren geschickt. Aus Fernando wird Antonius, ein Mann, der zeitlebens mit dem Vorwurf des Hochmuts zu kämpfen hat. Denn die Vorstellungen von der Welt, wie sie in der Bibel ausgebreitet werden, und die Urteile, die Glaubensbrüder darüber fällen, mag er nicht kritiklos übernehmen. Aber ist das schon Eitelkeit?

Köhlmeier erzählt enorm glaubwürdig

Diese Novelle enthält auch eine kleine Philosophie der Demut. Antonius findet jedenfalls neue Zugänge zur Heiligen Schrift, er ordnet und interpretiert die Kernsätze der Bibel im Hinblick auf ihre Alltagstauglichkeit. In den Mittelpunkt stellt er die schönsten Sätze über die Liebe: „Hass erregt Hader; aber Liebe deckt alle Übertretungen zu." Die Hybris des Predigers besteht bei Köhlmeier also vor allem in seiner intellektuellen Unabhängigkeit, und so erinnert dieser Antonius auch an seinen literarischen Schöpfer. Köhlmeier erzählt enorm glaubwürdig. Virtuos spielt er mit dem historischen Material, zudem bietet er eine unerwartete Figurenentwicklung an. Erst die emotionalen Brüche des Helden erzeugen die Spannung, die diese Geschichte auch in psychologischer Hinsicht braucht.

Denn erst die Verlusterfahrung in früher Jugend macht Antonius zu einem eigenständigen Denker, gibt ihm das selbstkritische Sendungsbewusstsein, das er braucht, um auf seiner Mission zu bestehen, um die verlorenen Seelen, zu denen auch er gehört, einzusammeln und ins Leben zurückzuführen. Der „Wortetrommler im Dienst des Evangeliums" hat kurz vor seinem Tod doch noch eine große Rede gehalten, und es ist alles andere als ein Wunder, dass die Anwesenden ganz unterschiedliche Versionen gehört haben wollen. Die einen meinen nämlich, Antonius habe über den Hass und das Nichts gesprochen, eine andere Pilgerin weiß zu erzählen, dass es nur um die Liebe gegangen sei, die, "wenn sie ehrlich empfunden werde, mit keinem irdischen Maßstab gemessen werden dürfe, denn sie sei nicht von dieser Welt." Im Traum vor dem Tod immerhin erscheint Bassima wieder, und so findet der heilige Antonius, der alles andere als heilig, sondern vor allem ein vernunft- und gefühlsbegabter Mensch war, zu seiner Liebe zurück.

Ein historisches Märchen

Köhlmeier erzählt aus den Bruchstücken einer Biografie ein historisches Märchen, er spielt mit Fiktion und Fakten, mischt Bibelzitate und tollkühne Exegese so außergewöhnlich bruchlos, dass diese Vergangenheit wirklich nah an die Gegenwart rückt. Keineswegs durch Anbiederung mit salopper Sprache, nein, der Erzähler dieser Novelle weiß um die Distanz der Epochen – und wird gerade deshalb grundsätzlich: Warum gibt es das Böse in der Welt? Wie viel Wahrheit steckt in einem Text? Oder, noch schwerer zu beantworten: in der mündlichen Rede?

Antonius findet weder im Glauben noch in der theologischen Auslegung sein Seelenheil. Hoffnung spendet ihm hier nur das Hohelied der Liebe, dessen verzerrtes Echo immer noch in der Anbetung des Schutzheiligen zu hören ist. Antonius ist nicht nur der Patron der verlorenen Gegenstände, sondern wird in der römisch-katholischen Kirche auch verehrt, weil er bei der Partnersuche helfen soll. Sogar Single-Wallfahrten nach Padua werden angeboten. Jenseits vom Kitsch des Kultes aber erinnert uns Köhlmeier mit seinem Antonius sowohl an die Menschlichkeit des Zweifelns als auch an das Urmotiv des Christentums: die Nächstenliebe. Sie kennt keine Glaubensunterschiede. So wird der Erzähler dieses kunstvoll komponierten Textes selbst zum Mann, der Verlorenes wiederfindet. Michael Köhlmeiers neue Novelle liest sich wie ein Klassiker.

Michael Köhlmeier: Der Mann, der Verlorenes wiederfindet. Novelle. Hanser Verlag, München 2017. 160 Seiten, 20 €.

Carsten Otte

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