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Schriftstellerin mit hohem Eigensinn. Brigitte Reimann (1933 - 1973).

© ZB/LITERATURZENTRUM NEUBRANDENBURG

“Nur nichts Falsches schweigend mit ansehen“: Carsten Gansel erzählt das Leben der DDR-Autorin Brigitte Reimann

50 Jahre nach Brigitte Reimanns Tod: Der Gießener Germanist setzt mit seiner Biographie Maßstäbe

Von Paul Michael Lützeler

Brigitte Reimann war erst 39 Jahre alt, als sie 1973 an Krebs starb, aber nur wenige Schriftsteller:innen ihrer Generation waren in der Ära Ulbricht so bekannt wie sie. Ihren Erfolg verdankte die Autorin einer Mischung aus Anpassung und Widerstand, Kooperation und Distanz, Individualismus und Gruppenarbeit, ethischem Engagement für eine sozialistische Gesellschaftsform und harscher Kritik an politischer Bevormundung.

Ihre staatsbürgerliche Devise war: „Nur nichts Falsches schweigend mit ansehen.“ Ihre Ästhetik war undogmatisch: Sie bewunderte westliche Autoren wie Hemingway und östliche wie Gorki. Von der Gegnerschaft zur europäischen Moderne (Kafka, Joyce) hielt sie nichts.

Durch poetologische Grenzbefestigungen der Kulturpolitiker ließ sie sich in ihrer Kreativität nicht behindern. Bei ihrer erzählerischen und essayistischen Arbeit ging sie nicht von Theorien aus, sondern war offen für Experimente. Sie beteiligte sich nur zurückhaltend an Literaturdebatten, begrüßte aber das Sich-Einlassen der Schriftsteller auf die Arbeitswelt. Mehr noch beschäftigte sie die Frage der Geschlechterbeziehungen.

Ein weiteres Lebensthema wurde für sie der Städtebau in der DDR. Ihre drei bekanntesten Erzählwerke hatten mit Selbsterlebtem zu tun. Anna Seghers wurde ihr Vorbild, weil sie das „Ich“-Sagen betonte und sich zur subjektiven Perspektive bekannte. Es waren keineswegs lediglich die staatlichen Bitterfelder-Weg-Erlassse, die Reimanns „Ankunft im Alltag“ von 1961 zu einem Bestseller machten, denn andere Versuche in der „Ankunftsliteratur“ fanden kaum Leser:innen. Die Autorin war eigens nach Hoyerswerda umgesiedelt, um in einer Brigade im Gaskombinat „Schwarze Pumpe“ zu praktizieren. Das 1962 erschienene Buch „Die Geschwister“ behandelte das deutsch-deutsche Teilungs-Dilemma. Ausgerechnet ihr Lieblingsbruder hatte den Seitenwechsel von Ost nach West vollzogen.

Reimanns Freundin Christa Wolf verband in „Der geteilte Himmel“ – erschienen 1963 - das Thema der neuentdecken Arbeitswelt mit dem von „Republikflucht“ und Mauerbau. Beide Autorinnen erhielten in der DDR hohe Literatur-Preise und wurden von Ulbricht persönlich ausgezeichnet. Das schützte sie aber nicht vor Überwachung und Schikanierung durch das Ministerium für Staatssicherheit. Die beiden Autorinnen schrieben „Nachdenken“-Romane, die ihre wachsende Distanz und Opposition zur DDR-Diktatur erkennen ließen.

Noch stärker als in ihren ersten Erzählungen wurde hier ein Aufbegehren im Sinne weiblicher Subjektivität gegen eine patriarchalische Gesellschaftsordnung erkennbar. Christa Wolfs „Nachdenken über Christa T.“ erschien 1968, Brigitte Reimanns „Franziska Linkerhand“ posthum 1974 in einer vom Verlag gekürzten Version. (Inzwischen ist die kritische und vollständige Fassung greifbar.)

Carsten Gansels umfangreiches Buch über Brigitte Reimann gibt das Modell einer gelungenen Biografie ab. Das dichterische und publizistische Werk der Autorin wird behandelt und ihr Lebenslauf detailliert geschildert: von der Kindheit in Burg bei Magdeburg während der Hitlerzeit über die Jugend in den Jahren der sowjetischen Besatzung bis zur Schriftstellerexistenz in der DDR, als sie in Burg, Hoyerswerda und Neubrandenburg lebte. Krankheiten, Traumata, Ängste werden geschildert, aber auch ihre Kommunikationsfreude, ihre Begabung für Freundschaft, die vielen erotischen Eskapaden und die drei gescheiterten Ehen kommen zur Sprache.

Aus Brigitte Reimanns Tagebüchern, die bei ihrem Erscheinen 1997/98 stark beachtet wurden, wird zu Recht ausführlich zitiert. Sie waren von der Autorin nicht als Bausteine zum Nachruhm konzipiert worden, sondern decken ohne Selbstzensur auch ihre Unsicherheiten auf, zeigen den Wechsel von Hoffnung und Enttäuschung, Optimismus und Depression. Aufschlussreich sind zudem Gansels Vergleiche mit der Biografie und dem Werk Uwe Johnsons. Detektivisch hat der Autor nach Archiven gesucht, in denen Lebenszeugnisse von oder über Brigitte Reimann zu finden sind, und die Zahl der interviewten Freund:innen, Bekannten und Verwandten ist beeindruckend.

Gansels interdisziplinärer Wagemut ist bewundernswert. Vieles im Leben der Schriftstellerin wird psychologisch, medizinisch, historisch, politologisch, soziologisch oder literatur- und kunstgeschichtlich kontextualisiert bzw. erläutert. Hier liegt eine Studie vor, in der die Entwicklung der Sowjetzone und der DDR von innen im doppelten Sinne gesehen wird: Die Autorin lernt man in ihrer subjektiven Auseinandersetzung mit der spezifischen Umwelt kennen, aber gleichzeitig profiliert der Biograf verdeckte oder auch ins Auge fallende Probleme der DDR-Gesellschaft wie sie in Reimanns komplexem Erzählwerk reflektiert werden.  

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