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Silvester mit Pablo Heras-Casado: O Freunde, diese Töne!

Popcorn, Artisten, Shetlandponys und zweimal Beethovens Neunte: Die Silvesterkonzerte der Berliner Orchester.

Die Neunte von Beethoven ist Chefsache unter den Dirigenten. In Berlin pflegen Marek Janowski und Daniel Barenboim die Tradition, mit ihren Orchestern das Opus Magnum zum Jahreswechsel zu spielen. Beethoven ist Publikumsliebling und die d-Moll-Symphonie das Silvesterstück schlechthin. Wenn aber Barenboim der Lockung folgt, in Wien mit den dortigen Philharmonikern das berühmte Neujahrskonzert zu feiern, lässt er junge Konkurrenz an seine Staatskapelle, etwa Gustavo Dudamel.

Diesmal kommt Pablo Heras-Casado ins Schiller-Theater und siegt mit einer selbstständigen, vibrierenden Aufführung. Der spanische Star, um den sich weit und breit die Spitzenorchester bemühen, gibt sich unprätentiös und leitet ohne Taktstock den Apparat mit quasi sprechenden Fingern. Die erreichen, dass nach verhaltenem Allegro-Beginn das Thema mit ungewöhnlicher Macht niederstürzt, während Liedhaftes in den Bläsern singt, als sei es von Schubert. Peitschend spürt Heras-Casado die Maßlosigkeit der Musik auf, sein Herz gehört der Pauke.

Die allerdings ist bei der Staatskapelle so bestellt, dass sie im Adagio beinahe zum Melodieinstrument mutiert. Paukengewitter und Bläsersoli, deutlich schimmernd in allen Farben, Ritardando als Ausdrucksmittel, unendliche Melodie bestimmen das rein musikalische Ereignis. Das Außermusikalische, der „fromme Gesang einer Symphonie“ (Beethoven), das „Fidelio“-nahe Bild der Freiheit und der über Sternen thronende Gott, werden von diesem Dirigenten weniger thematisiert als die musikalischen Sensationen, die bei ihm das stilistisch Unbekümmerte mühelos einschließen. Barenboims Langsamkeit und Misterioso liegen ihm fern. Dass beide Interpretationen mit demselben Orchester gelingen, zeigt die Meisterschaft der Staatskapelle. Der Beifall schließt den Staatsopernchor ein, auf dessen Erfahrung Martin Wright als neuer Direktor bauen kann. Ähnlich geht es mit den Solisten Anna Samuil, Anna Lapkovskaja, Stephan Rügamer, René Pape. Das Schluss-Prestissimo ergibt sich unter Heras-Casado nicht plötzlich, sondern wie aus einer inneren, inhaltlichen Beschleunigung der Musik. Sybill Mahlke

Ganz anders geht Marek Janowski, der ernsthafteste, strengste Arbeiter unter Berlins Dirigenten, Beethovens Neunte an – die an Silvester natürlich auch beim Rundfunk-Sinfonieorchester zum Standardprogramm gehört. Doch just jene altmeisterliche Autorität Janowskis, die im Wagner-Zyklus für so mitreißende Klangergebnisse gesorgt hat, scheint im Konzerthaus zu fehlen. Laxheiten, Abstimmungsschwächen, Balanceprobleme führen dazu, dass die ersten drei Sätze der d-Moll-Symphonie mehr schlecht als recht über die Zielgerade humpeln. Ja, da sind einige schön gelungene Details, vor allem die Oktavsprünge, das markante erste Motiv des zweiten Satzes, die unter Janowskis Händen wie Irrlichter in der Nacht umherblitzen. Aber dann schleppt wieder eine Stimmgruppe, während die andere schon angefangen hat, so dass das RSB bis zu diesem Zeitpunkt nur symphonisches Schwarzbrot liefert.

Aber alle warten ja sowieso auf den vierten Satz. Und hier wird tatsächlich vieles besser. Was auch an den formidablen, satt raunenden tiefen Streichern liegt, die ja das Freudenthema als Erste vollständig intonieren dürfen. Markus Brück, für den erkrankten Günther Groissböck eingesprungen, schmettert sein „O Freunde, nicht diese Töne“ machtvoll heraus, Janowski pfeift ihn mit einer winzigen Geste des Fingers zurück, schade eigentlich. Burkhard Fritz kann sich, wie so viele Tenöre, in seinem Solo nicht gegen das Orchester durchsetzen, Measha Brueggergosman hingegen – im wallenden psychedelischen Regenbogenkleid auch optisch der Hingucker – hat damit keinerlei Probleme. Dann beginnt der Rundfunkchor (einstudiert von Nicolas Fink) sein „Seid umschlungen, Millionen!“ anzustimmen. Ausgerechnet diese Passage, die unter Chören minderer Qualität schnell zum zähflüssigsten Teil der Symphonie degenerieren kann, wird zum Höhepunkt des Abends: Völlig organisch mischen sich die Klangfarben, ohne jede Erdenschwere leuchten die Stimmen im Saal. Wir wollen hoffen, dass das enthusiastisch herausgebrüllte „Yeah“ eines Besuchers vor allem diesem wieder einmal sensationell schön singenden Chor galt. Udo Badelt

Circus also, roter Samt, goldene Tressen, Popcornduft. Seitdem das Tempodrom 2003 versehentlich ans DSO und den Circus Roncalli zugleich vermietet wurde, gestalten beide gemeinsam das alljährliche Silvesterkonzert. Statt der gewohnten kleinen Kapelle unter Leitung von Georg Pommer breitet sich am zehnten Jubiläumsabend das große DSO unter Yutaka Sado aus, mit Orchestermusik heiteren Naturells, die trotzdem nicht wirklich vom Circusgeschehen ablenken kann. Ist ja auch gar nicht Sinn der Sache. Keine Tritsch-Tratsch-Polka reicht schließlich an die Niedlichkeit eines Shetlandponys heran, gegen die Akrobatik des ungarischen Duo Viro wirkt selbst ein Tschaikowsky-Walzer fiepsig, und der mächtige „Mars“ aus Holsts „Planeten“ weicht der spektakulären Ausstrahlung des Solisten von der Jinan Acrobatic Troupe.

Es muss eine Heidenarbeit gewesen sein, die artistischen Nummern in der Kürze der Zeit auf die Kompositionen abzustimmen, und es wird andererseits eine große Freude fürs Orchester sein, in eine so andere Welt einzutauchen. Die Musikerinnen sind in Glitz und Glimmer gekleidet, und die Mezzosopranistin Anne Sofie von Otter verwechselt man schon fast mit einer Circusdirektorin, so majestätisch schreitet sie heran. Mit anderen Worten: Alles unterwirft sich dem Circusprinzip. Fabelhaft! Denn nirgends wohl zeigt sich die Macht von Geste und Blick deutlicher als in der Manege: Von der schieren Präsenz der KGB Clowns oder den gezierten, zugleich sensationsheischenden Gebärden des Circustheater Bingo kann man nur lernen, ganz zu schweigen von der handwerklichen Exzellenz der Artisten. Einmal sogar weht der Zauber großer, befremdlicher Kunst durchs Tempodrom: als abermals der Jinan-Akrobat zu den Pendelklängen von Debussys „Clair de lune“ an einer Stange auf- und niederschwebt, als liefe er durch Wasser. Ein wunderbarer, wundersamer Abend. Christiane Tewinkel

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