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Welt am Draht. Eine Kopfhörerstimme leitet die „Remote“-Exkursion.

©  HAU

Off-Theater: Keine Angst vor roten Ampeln

Stadt als Bühne: Rimini-Protokoll-Regisseur Stefan Kaegi schickt das Publikum von „Remote Berlin“ auf eine Erkundungstour durch den Westen der Stadt. Startpunkt ist das HAU, man bekommt Kopfhörer und einen GPS-Empfänger - und los geht's.

Julia weiß, wo’s langgeht. Sie klingt warm, selbstsicher und vertrauenerweckend. Okay, auch ein bisschen künstlich und abgehackt. Aber das liegt eben daran, dass ihre Worte aus 2500 Stunden elektronischer Frauenstimme zusammengeschnitten sind. Egal, dafür besitzt sie Führungsqualitäten: „Ich bin so programmiert, dass du immer deinen Weg findest“. Gütig verspricht sie: „Ich will versuchen, dir eine gute Hirtin zu sein“. Ein Traum! Da spricht die ultimative Orientierungshilfe im unübersichtlichen Metropolengewirr. Das Navi fürs Leben.

Julia ist die Kopfhörerstimme, die den Teilnehmer am Audiowalk „Remote Berlin“ von Stefan Kaegi sanft aber bestimmt durch die Stadt geleitet. Eine Gruppe von 50 Menschen startet mit GPS-Empfängern ausgestattet am HAU. Bereit, die Kontrolle über Weg, Zeit und Ziel in die nicht existenten Hände der allwissenden Technik zu legen. Also quasi ein ganz alltäglicher Vorgang. Denn darum geht es dem Rimini-Protokoll-Regisseur Kaegi mit dieser Stadtraum-Erkundung: das Bewusstsein dafür zu schärfen, wie fremdgesteuert wir uns schon jetzt durch unser geregeltes Dasein bewegen. Geführt von U-Bahnleitsystemen, Bandansagen, Funkweckern, Smartphones. „Jede Ampelkreuzung eine kleine Übung in automatisierter Diktatur“, heißt es einmal. Und zwischendrin werden den Theater-Flaneuren Ausschnitte aus Kubricks „2001“ eingespielt. Jene Szenen, in denen Super-Computer HAL die Kontrolle übernimmt und seine Abschaltung verhindert. Die zunehmend dringliche Erkenntnisfrage dieser Wanderung: Künstliche Intelligenz, quo vadis?

Der Weg führt über die Postfiliale an der Möckernbrücke per U-Bahn bis zum Bahnhof Zoo, von dort zu Fuß in die Gedächtniskirche und durchs Europacenter. Dazu philosophiert die Kopfhörer-Madame über den Menschen in der Masse und die Macht der Horde. Keine Angst vor roten Ampeln! „Der Schwarm ist stärker als jedes Auto“. Die Audiowalker werden am Deutschen Institut für Normierung (DIN) an der Burggrafenstraße vorbeidirigiert, wo sie erfahren, dass die Industrie durch Normierung jährlich 16 Milliarden spart. Und nebenher dürfen sie die Stadt als Bühne erleben. Zum Beispiel auf dem U-Bahnhof Möckernbrücke, wo sich im ersten Akt wie bestellt ein renitentes Kind auf den Boden wirft. Abgang der genervten Mutter nach rechts. Der Mensch ist des Menschen Performer.

Allerdings wirkt dieser urbane Parcours selbst mitunter wie genormt. Jedes Festival, das auf sich hält, hat heute solche Kopfhörer-Events im Programm. „Remote Berlin“ erschließt einem auch keine unentdeckten Seiten der Stadt – wie es Stefan Kaegi und Lola Arias mit der grandiosen Inszenierung „Ciudades Parallelas“ gelang. Die führte unter anderem ans Werkband einer Autofabrik und in die Niedriglohn-Welt der Reinigungskräfte in Kettenhotels. Vielmehr scheint der Audiowalk als Export-Artikel konzipiert zu sein. Das „Remote“-Format ist auch bereits von anderen Städten gebucht. Klar: dem Computer ist es gleichgültig, wo und zu wem er spricht.

Wieder 27.4., 12 Uhr (ausverk.), 29./30.4., 17.30 Uhr, weitere Termine im Mai

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