zum Hauptinhalt

Offene Grenzen: Nieder mit den Zäunen

Plädoyer für eine Weltordnung ohne Migrationskontrollen. Ein Vorabdruck.

Der Titel formuliert keine Frage, sondern „eine notwendige Utopie“. In seinem Buch „Offene Grenzen für alle“ (Hoffmann und Campe, Hamburg 2021, 223 Seiten, 22 €) zeigt der Politikwissenschaftler Volker M. Heins, Senior Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen, unter welchen Voraussetzungen eine Welt ohne Mauern und biometrische Kontrollen denkbar ist. Wir drucken aus dem Band, der geschichtliche, reportagehafte und reflektierende Passagen verbindet, drei Überlegungen aus dem abschließenden Kapitel vorab. "Offene Grenzen für alle" erscheint am 1. April.

1) Offene Grenzen sind kein höchstes Gut, dem andere Güter geopfert werden sollen. Es wäre ein Missverständnis zu glauben, dass die Verteidigung offener Grenzen keine anderen Güter kennt, die ebenfalls geschützt zu werden verdienen. Ein Standardargument gegen offene Grenzen lautet, dass sie solche anderen Güter gefährden, etwa die Demokratie oder den sozialen Zusammenhalt. In dieser Allgemeinheit ist das Argument offenkundig unhaltbar. Die offenen Grenzen, die Deutschland mit allen seinen Nachbarländern verbinden, wirken sich bekanntlich nicht negativ auf Demokratie und Zusammenhalt aus. Trotzdem kann man sich eine Welt vorstellen, in der offene Grenzen andere Güter gefährden. Tatsächlich üben sich sowohl die kommunitaristische Philosophie als auch die neurechte politische Migrationskritik in der Kunst, solche Gefahrenszenarien zu entwickeln und als realistisch auszugeben. Was ist, wird etwa gefragt, wenn sich ganz Afrika auf den Weg nach Europa macht? Oder halb Europa in die kleine Schweiz umziehen will? Oder Feinde der Demokratie millionenfach einwandern?

Diese Fragen so zu stellen, heißt, die Antwort gleich mitzuliefern. Man müsste erst einmal belegen, dass derlei Annahmen realistisch sind. Aus der Geschichte der EU-Erweiterungen nach Süden und Osten wissen wir jedenfalls, dass damals ebenfalls behauptet wurde, ganz Spanien und ganz Rumänien würden sich auf den Weg nach Norden und Westen machen. Das ist nicht passiert. Aber selbst wenn nach gewissen Kriterien „zu viele“ kommen mögen oder Menschen einwandern, die Schaden anrichten, ist die Schließung der Grenzen kein fraglos geeignetes Mittel, um die Situation zu verbessern. Ein großer Teil der Einbrüche – nicht die Mehrheit – in deutschen Städten geht nachweislich auf das Konto von Banden aus osteuropäischen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union.

Soll man deswegen die Grenzen wieder schließen und die Osterweiterung rückgängig machen? Noch ein Beispiel: Es gibt seit Jahren eine massive Zuwanderung von Menschen aus Kalifornien in den konservativen US-Bundesstaat Idaho, wo es auch schön ist und vor allem billiger. Allerdings treibt diese Binnenmigration die Immobilienpreise in Idaho in die Höhe, verändert die politische Landschaft und führt zu Überfremdungsängsten. Sollte man deshalb, wie Lokalpolitiker allen Ernstes gefordert haben, für 26 Milliarden Dollar eine Mauer um Idaho bauen, um die drohende „Kalifornisierung“ zu stoppen?

2) Offene Grenzen sind kein allumfassendes Gut, das alle anderen sonst noch erstrebenswerten Güter in sich enthält. Man sollte nicht denken, dass eine Politik der Grenzöffnung auf einen Schlag alle Probleme der Weltgemeinschaft löst. Niemand ist so naiv. Gerade der Zusammenhang zwischen offenen Grenzen und der Sicherstellung einer größeren Verteilungsgerechtigkeit zwischen armen und reichen Ländern ist kompliziert. Für Europa kann man allerdings zeigen, dass sich die Lebensverhältnisse in den EU-Mitgliedsländern während der vergangenen Jahrzehnte immer mehr angeglichen haben.

So sind die Durchschnittseinkommen in Spanien und Portugal seit dem Beitritt der beiden Länder 1986 denen reicherer Mitgliedsstaaten näher gekommen. Einer der Gründe für diesen Erfolg liegt in der Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit innerhalb Europas für Unionsbürgerinnen. Menschen, die in ein reicheres Land abwandern, verbessern durch den Ortswechsel in der Regel ihre Lage. Das heißt jedoch nicht, dass auch ihre Herkunftsländer automatisch etwas davon haben. Seit langer Zeit gelingt es vielen Familien der höheren Mittelklasse in Indien, wenigstens einen ihrer Söhne ins Ausland zu schicken, um dort zum Beispiel als Softwareentwickler zu arbeiten. Bloß: Von den Überweisungen nach Hause profitiert allein die Familie des Sprösslings, keineswegs das Land als solches oder gar die Armen. Aus solchen Befunden ergibt sich aber allenfalls ein Argument gegen das globale Regime offener Grenzen für nur wenige.

3) Offene Grenzen sind kein freistehendes Gut, das unabhängig von bestimmten politischen und sozialen Voraussetzungen verwirklicht oder geschützt werden kann. Vor allem ist die Verteidigung offener Grenzen weit davon entfernt, die Realität internationaler Konflikte auszuklammern. Die Utopie richtet sich gegen den Fetisch der Nation, nicht aber gegen die Existenz und die Unabhängigkeit von Staaten. Staaten jedoch befinden sich in sehr unterschiedlichen machtpolitischen Situationen. Um ihre Bevölkerung zu schutzen, sind sie daher berechtigt, den Zugang zum eigenen Territorium einzuschränken, sofern dies ein geeignetes Mittel ist, um reale Gefahren abzuwehren.

Die Grenze zwischen Israel und dem Libanon wird später und in anderer Weise geöffnet werden als die Grenzen zwischen Polen und Belarus, Südafrika und Mosambik oder der Türkei und der Europäischen Union. Die Utopie offener Grenzen kann nicht unabhängig von Raum und Zeit verwirklicht werden. Kontexte sind entscheidend: aktuelle Bedrohungslagen, historische Traumata, wechselseitige Wahrnehmungen. Das bedeutet, dass zum Beispiel Visaliberalisierungen in Aussicht gestellt, aber auch verweigert werden dürfen, wenn sich ein Staat feindselig gegenüber einem anderen Staat oder Teilen seiner Bevölkerung verhält. Anders ist die Lage, wenn Staaten wie die DDR oder Syrien kollabieren, die Grenzen sich ein Stuck weit öffnen und dann die eingeschlossene Bevölkerung diese Grenzen überrennt. Das aber sind Ausnahmesituationen.

[Jeden Donnerstag die wichtigsten Entwicklungen aus Amerika direkt ins Postfach – mit dem Newsletter „Washington Weekly“ unserer USA-Korrespondentin Juliane Schäuble. Hier geht es zur kostenlosen Anmeldung]

Intakte Staaten haben kein Recht, andere Staaten zur Öffnung ihrer Grenzen zu zwingen oder ein Recht auf Einwanderung zu reklamieren. Vielmehr setzen offene Grenzen freundliche Beziehungen zwischen den Staaten voraus. Insbesondere fur ehemals unterworfene Staaten und Bevölkerungen ist das wichtig. Andrew Bridgen, ein konservativer Abgeordneter des britischen Unterhauses, fiel in der Brexit-Debatte mit dem Kommentar auf, dass jeder Engländer ein Recht auf einen irischen Pass habe.

Seine Überlegung war, dass der Austritt Großbritanniens aus der EU kein Problem darstelle, weil man sich das Recht auf Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit innerhalb Europas buchstäblich durch die Hintertür der ehemals unterjochten Nachbarinsel zurückholen könne. Das Entsetzen über diesen Anflug neokolonialer Arroganz war nicht nur in der Republik Irland groß. Daraus lernen wir, dass die Utopie offener Grenzen mit der Existenz unabhängiger Staaten versöhnt werden muss.

Volker M. Heins

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false