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Kultur: On the road again

Straßenmusik – als Bänkelgesang war sie Tagesschau. Dann war sie Politdemonstration einer Generation. Und heute? Ist sie Geschäft

Es ist ein milder Sonntagnachmittag in Paris. Madame führt ihren Hund den Boulevard Richard Lenoir spazieren. Die Anwohner nehmen auf den Terrassen einen späten Café. Hier im Bastille-Viertel trifft man vor allem Studenten und Künstler, eine alternative Szene, oder die es mal war. Auch hier wandern Milieus.

Damien Cherbit hetzt ins „Locandiera“, eine Bar in der Rue Oberkampf, eine Stunde zu spät. „Tut mir leid“, sagt er, stellt den Gitarrenkoffer ab, ordert „Espresso allongée“, verlängerten Espresso, und kramt nach Zigaretten. Er ist noch ganz aufgeregt, grandios sei die Session letzte Nacht gewesen, das Publikum habe getobt. Hip-Hop und Flamenco, Reggae und Blues, Elektronik, Rock, Folklore und Berberweisen, Latino und Jazz: Alles mischt sich, wenn Musiker wie Damien auf der Bühne improvisieren. Die „Soirées Jam“ werden einmal monatlich in verschiedenen Bars organisiert. Die anderen Tage steht Damien mit der Klampfe auf den Straßen von Paris. Er ist ein moderner Bänkelsänger, ein Troubadour des 21. Jahrhunderts.

Sie stehen in Fußgängerzonen und Einkaufspassagen, in Unterführungen, auf Bahnhöfen und entern U-Bahnen. Mitunter nerven sie mit ihren immer gleichen Weisen, dem „El condor pasa“, dem „Blowin’ in the wind“, mit „Kalinka“, mit „Guantanamera“ und, wenn’s gefühlig sein soll und damit die Geldbeutel der Zuhörer mitheulen vor Schmerz und sich öffnen: „Yesterday, all my troubles seemed so far away ...“. Die jüngste Variante der Straßenmusik: rumänische Kapellen, Sinti und Roma, nur ist darunter leider kein nachgeborener Django Reinhardt auszumachen. Doch war Qualität noch kaum einmal ein Merkmal der Straßenmusik, entscheidend ist, dass es sie gibt – und dass sie nicht wegzudenken ist.

Damien wuchs im westlichen Vorort Montreuil auf, inmitten der pessimistische Grundstimmung in den Banlieues. „Ich bin selber ein geparktes Kind“, sagt er. Die Großeltern wanderten als sogenannte „Pieds Noirs“, die algerischen Juden, 1949 aus Saida nach Frankreich ein. Damiens italienischstämmiger Vater verdingte sich im Autohandel, traf im Nachtclub die Maghrebinin Patricia und heiratete sie. Es schein fröhlich gewesen zu sein im Hause, stets seien Gäste da gewesen, sagt Damien, es sei gefeiert worden und jede Tristesse wegmusiziert. „Mein Vater sang wie ein Zigeuner, er konnte die Beatles, Stones, Brel und Brassens“, erzählt Damien.

Klar, Georges Brassens darf nicht fehlen, der Pariser Vorzeigechansonnier, wenn nicht Pionier der Straßenmusik, so aber doch einer ihrer Überväter. Noch heute übt mit Brassens, wer in Frankreich Gitarre lernt. Damien auch. Mit 15 spielt Damien das erste Mal auf der Straße, am Hafen des Provencestädtchens La Ciotat, vor den Bauern der Region. Seine eingenommenen Francs teilte er mit den Clochards, tingelte auf Märkten und Festivals, verweigerte eine Weile die Münzen. „Wie in den afrikanischen Dörfern, wo man untereinander die Dienste tauscht.“ Das ist ein bisschen viel Romantik der Straße, aber Damien erzählt es so, und er sagt auch, er wolle vermitteln, was ihn umtreibt, und wenn ein Passant das hören will, sei er glücklich. „Ich singe nicht: ‚La Vie en Rose‘, nur damit die Kasse klingelt“, sagt er. Piafs mehr als 60 Jahre alte Hymne hat Patina angesetzt, aber Touristen mögen das. Viele Pariser Musikanten wissen darum und bedienen den Mythos, der verwitterte Alte mit dem Akkordeon beispielsweise, vor der Métro Opera. Hin und her, es leiert schon. Damit kommt man durch. Vielleicht auch Damien. Doch inzwischen sind die Straßenmusiker vielschichtiger und professioneller geworden, auch hier in Paris, sie haben zu den Kassenschlagern ihr eigenes Repertoire, und sie sind gut ausgebildet. Damien etwa beherrscht außer der Gitarre noch Akkordeon, Klavier, Saxofon, Klarinette, persische Flöte.

Die Straßen von Paris waren zu allen Zeiten ein Zentrum der fahrenden Musiker. Ob Kabarett oder Gratisspektakel, Messe Saint-Germain, Scharlatane, Instrumentenspieler, Chansonsänger, Bettler, Trompeter oder die Musiker der französischen Garden: Alle fanden dort ihren Platz. „Die Pariser Straße war Schauplatz von Aufständen oder des Theaters. Schon vor Jahrhunderten wurden von den Musikern der ‚Grande Écurie‘, also des königlichen Musikcorps, regelmäßig Feste aus Anlass der königlichen Einmärsche begleitet“, erklärt Florence Gétreau, Direktorin am „Forschungsinstitut für musikalischen Reichtum in Frankreich“.

Und noch früher gaben der Spielmann oder das Spielweib ihr Programm. Seit dem siebten Jahrhundert ist mit diesen Begriffen die Tätigkeit von berufsmäßigen Schaustellern, Akrobaten, Zauberkünstlern und Musikanten belegt. Sie traten bei höfischen Festen und Kirchweihfesten auf, frühe Profis. Im 12. und 13. Jahrhundert mischten sich Studenten und entlaufene Kleriker unter sie, schufen Trink- und Liebeslieder wie die ‚Carmina Burana‘. Solche Spruchdichtungen, gegenwartsbezogene Streitgedichte, dienten auch als Parodien auf die Kirche. Diese Vagantenpoesie war neben dem volkstümlichen Lied, der Gregorianik und der französischen Troubadourkunst ein Element für den aufkommenden deutschen Minnesang. Gegen Ende des 13. und Beginn des 14. Jahrhunderts schlossen sich Spielleute in Musikerzünften zusammen und versuchten, sich in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren.

Mit dem entstehenden Buchdruck bekamen die Vorträge zum Unterhaltungswert nachrichtliche Bedeutung. Frühes Infotainment, wenn man so will. Straßenmusiker wurden als Verbreiter und Verkäufer von Zeitungen wichtig. Und weil der größte Teil der Bevölkerung aus Analphabeten bestand, wurden Nachrichten von Lesekundigen auf Flugblättern verbreitet, eben auch auf Liedblättern. Diese Zeitungslieder vermittelten wirkliche oder erfundene Zeitereignisse oder meinungsbildende Propaganda. Massenwirksame religiöse, politische oder soziale Emotionen wurden in Deutschland durch Lieder gegen die Türken, gegen die Antichristen, aber auch gegen das Papsttum und die weltliche Obrigkeit geweckt.

Der Bänkelgesang entwickelte sich am Beginn des 17. Jahrhunderts, der vereinigte Prosa und Lied. Darin gehörten die Musikbegleitung, der Gesang, das Bild und das Bänkel, also die Bank, auf der der Sänger stand, zusammen. Aus dem „Spielmann“ wurde Mitte des 18. Jahrhunderts der „Musikant“, in ganz Europa spielten sie vor den Haustüren, auf öffentlichen Plätzen, auf Jahrmärkten, im Wirtshaus, im Tanzhaus, im Freuden- oder Badehaus. Gaukler und Schausteller, umherziehende Geistliche, entlaufene Mönche, arbeitsscheue Gauner, Bänkelsänger und Bettelmusikanten, ein buntes Volk. Mit den gesellschaftlichen Umbrüchen des 19. Jahrhunderts wandelte sich auch das Repertoire der Straße: Die politischen und sozialen Liedern erklangen. „Ein guter Chanson ist für die Straße gemacht, der Mann auf der Straße erkennt sich darin wieder. Das Lied wird sein Gut, also ist es populär“, definierte der Ethnologe Georges Henri Rivière. Und weil es populär ist, ist es unbequem. Schon im Mittelalter gerieten fahrende Musiker mit ihren erotischen oder zeitkritischen Liedern in Konflikt mit der kirchlichen und weltlichen Obrigkeit.

Die beste Methode gegen Aufmüpfigkeit indes ist die Einverleibung. Während der Industrialisierung gründeten Unternehmen eigene Musikvereine, die für sozialen Zusammenhalt und musikalische Erziehung sorgen sollten. Männergesangsvereine und Blechmusikkapellen bilden sich Mitte des 19. Jahrhunderts in den Parks. Und ab 1880 wird mit den Bällen zum 14. Juli die republikanische Institution zelebriert. „Heute Abend ist Ball in meiner Straße, im kleinen Bistro strömt die Freude, sieben Musiker auf einem Gerüst spielen für die Liebenden ...“, schreibt Edith Piaf einem Chanson.

Ohne die Piaf kommt natürlich keine Geschichte über Straßenmusik aus. Ihre Biografie, ein Märchen. Mit 15 verlässt sie den Vater und lackiert monatelang militärische Kampfstiefel. Bis sie sich ins Leben stürzt: In Belleville, Pigalle, Clichy, den Vierteln des Lasters, übertönt sie mit der merkwürdig hellen Stimme den Verkehrslärm. Wenn Edith singt, blockieren die Leute den Gehweg, bis die Polizei einschreitet. Doch die Flics sehen vom Bußgeld ab. Mit 20 entdeckt sie Louis Léplée, der Besitzer des ‚Gerny’s‘, des elegantesten Kabaretts von Paris, auf den Champs-Elysées. Er engagiert sie 1935 unter dem Namen: Môme Piaf, so auch der Titel des Films, der in dieser Woche bei der Berlinale anläuft.

„Chanter Paris“, im 20. Jahrhundert lebt die Tradition weiter und nicht nur in Frankreich. In den sechziger und siebziger Jahren quäkt auf Europas Straßen „Blowin’ in the wind“, Bob Dylans legendärer Protestsong. Es ist wieder eine Epoche, in der sich kritische Lieder in politische Botschaften verwandeln. Auslöser ist der Vietnamkrieg und die Folkwelle um Pete Seeger und Joan Baez, die aus Amerika in die alte Welt schwappt. Jede Demonstration wurde von Agitprop-Balladen und der Klampfe begleitet. Freiluft-Folkfestivals, Straßenblockaden, Kundgebungen: Wer dort sang, war politisch. Georges Brassens stand, wie auch sein Sängerfreund Leo Ferré, anarchistischen Pariser Kreisen nahe und spielte zugunsten des Blattes „Le Libertaire“. Parallel entstand auch in der DDR das politische Lied, im Rahmen der FDJ-Singebewegung, in der dann Pete Seegers progressive Lieder auf Deutsch adaptiert wurden. Mehr schlecht als recht. Auf den Straßen wurde Solidaritätsgeld gesammelt und in das runde Loch des Gitarrenkörpers geworfen. Ab und zu diente die FDJ-Fahne als Spendenhut. Seit 1970 fand im Osten regelmäßig das „Festival des politischen Liedes“ statt, zu dem Gruppen aus der ganzen Welt anreisten.

Damien ließ sich eher vom maßlos exzentrischen und sensiblen Genie Serge Gainsbourg verführen: „Der hatte einen offenen, kritischen Geist, er war authentisch“, solche Leute vermisse er. Dessen Texte ermutigten Damien, eigene zu verfassen. Er notiert einige Sätze auf eine Papierserviette: „Mischling / Auf dieser Erde webt sich das Leinentuch des Lebens / Man betet, man rennt, tanzt und singt, bis man schwankt / Fließende Tränen, beängstigender Alarm / Zu viele bewaffnete Kinder / Zu viel schmutziges Geld. Natürlich, die Regierungen ...“ Zeilen aus seinem Chanson: „Métisse“. Wir wollen sie nicht bewerten.

Einst hatte auch Edith Piaf eine neue Spielart der Chansons publik gemacht, ihre eigene. Und so zeugt jede Zeit ihre Sänger. Brassens, Dylan, Piaf, ihre Chansons haben überdauert. Junge Gitarristen mit Mundharmonika um den Hals singen die heute noch inbrünstig auf der Karlsbrücke in Prag, im Londoner ‚Covent Garden‘, der ‚Piazza Navona‘ in Rom, dem ‚Hviezdoslav-Platz‘ in Bratislava oder im ‚French Quarter‘ von New Orleans, neben Boston, Chicago und Memphis einst das Paradies der amerikanischen Straßenmusikerszene. In Zürich muss man die Darbietungen jeweils auf zwanzig Minuten beschränken. Straßenmusik ist nur den See entlang vom Museum Bellerive bis zum Strandbad Mythenquai erlaubt. Wenn man Instrumente und Utensilien benutzt, die Strom brauchen, zahlt man saftige Strafen.

Kaum einer der Straßenmusiker kann von der Musik existieren, schon gar nicht in Paris mit seiner Straßenmusikerinflation. Damien handelte früher mit Drogen, um sich über Wasser zu halten. Heute schwankt die Marge zwischen 500 Euro und gar nichts am Tag. Essen, Trinken, Klamotten und U-Bahnticket finanziert er mit den 380 Euro RMI, die ihm monatlich überwiesen werden, das französische Äquivalent zu Hartz IV. Bei der monatlichen Jam- Session kriegt er freie Getränke, ein guter Tag vor dem ‚Centre Pompidou‘ bringt 70 bis 100 Euro. Private Abende sind ertragreicher, um dort engagiert zu werden, ist man aber auf die richtigen Netzwerke angewiesen.

Damien hat sie. Und ein Zuhause? „Ich lebe überall“, sagt er. Vielleicht auch dies ein romantisches Klischee. Er schlafe jede Nacht woanders und zwar freiwillig. Mal übernachtet er bei Freunden, mal im ‚Squat‘, dem besetzten Künstlerhaus. Die meisten davon sind in Paris geräumt. Eine Weile hat er versucht, sesshaft zu werden. Mit einer Freundin lebte er im eigenen Appartement, besaß die zwei Zimmer, ein Auto und Geld. Das bürgerliche Leben. Es stand ihm nicht. „Eines Morgens spürte ich, dass ich weg muss. Griff mir Rucksack und Gitarre und: Adieu.“ Ziel war Barcelona. Auf dem Plaça Reial brachten ihm ‚Gadjos‘, spanische Fahrende, den Flamenco bei. Aber auch dort protestierten kürzlich die Anwohner mit meterhohen Plakaten gegen den „nächtlichen Lärm“. Die Stadt reagierte mit Musikverbot. Jetzt sollen die Straßenmusiker hier zum Wettbewerb gegeneinander antreten und die besten dürfen dann stundenweise auftreten.

Der Wettbewerb wird härter für die Straßenmusikanten. Irgendwann kehrte Damien nach Paris zurück, „wegen der Cafés und der Métro“, sagt er. Schätzungsweise 2000 U-Bahnmusiker buhlen hier um Publikum, die meisten illegal. Wer als Straßenmusiker in der Pariser Métro spielen will, muss sich, wie schon auch in London, speziellen Prüfungen unterziehen. Man nimmt in Paris vorher an einer Audition im Rathaus teil, um den offiziellen Ausweis, die „Lizenz zum Spielen“, zu erhalten. Das hat zumindest die Qualität erhöht, derart, dass die Métro- Musiker inzwischen so beliebt sind, dass auf Wunsch der Fahrgäste eine CD mit ihren Stücken produziert wurde. Jährlich zum Sommeranfang am 21. Juni, treten sie mit anderen Straßenmusikern in der Stadt auf. Das „Fête de la musique“, vom Kulturministerium gegründet, fand erstmals 1982 statt – und hat mittlerweile Ableger in mehr als hundert Städten, darunter auch in Berlin. Die Straßenmusik ist Ware geworden, ein umkämpfter Markt. Stellplätze müssen bezahlt werden, und es wäre wahrscheinlich sehr naiv, anzunehmen, die rumänischen Kapellen, die abgerissen durch die Kneipen ziehen, würden auf eigene Kasse spielen.

Damien wird unruhig, er braucht jetzt dringend Kippen. Wir gehen. Draußen ist es längst dunkel geworden. Er stoppt an einer schweren Haustür, tippt den Zahlencode ein. Die WG eines Bekannten, der Schlafplatz für kommende Nacht. Straßenmusikerromantik, der Rest.

Maxi Leinkauf

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