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Oper: Ach, Russland, du traurige Schöne

Bilderflut, Opulenz und durcheinandergewirbelte Erzählebenen: Mariss Jansons und Stefan Herheim wagen sich in Amsterdam an Tschaikowskys „Eugen Onegin“

Vermutlich wäre es ungerecht, von Stefan Herheim zu verlangen, sich mal eben zu ändern. Zu fordern, dass Europas gefragtester Opernregisseur sein ganzes, an Inszenierungen wie dem Bayreuther „Parsifal“ oder dem Stuttgarter „Rosenkavalier“ glänzend bewährtes Instrumentarium diesmal zu Hause lasse. Denn waren andererseits die Scharen von Kritikern und Opernintendanten nicht gerade deshalb nach Amsterdam gekommen, um zu sehen, ob die Methode Herheim auch bei Tschaikowskys „Eugen Onegin“ Unerwartetes zutage bringen würde? Und wären nicht alle ein wenig enttäuscht, wenn sie nur einen normalen „Onegin“ vorgesetzt bekämen: ein schlichtes, tief trauriges Stück über Menschen, die allesamt ihr Lebensglück verfehlen?

Es ist also auch diesmal wieder Herheim-Theater geworden. Ein Theater, das sich nicht in erster Linie für die Handlung und die Psychologie der Figuren interessiert, sondern für die Schichten, die darunter und darüber liegen. Für den kulturgeschichtlichen Assoziationsraum, den jede Oper aktiviert. So wie man beim Stichwort „Parsifal“ eben nicht nur an einen tapferen Ritter, sondern auch an Bayreuth und Hitler denkt. Woran aber denkt man beim Stichwort „Onegin“? Herheim und sein Ausstattungsteam Philipp Fürhofer und Gesine Völlm denken da vor allem an Russland: Da gibt es natürlich einen Bären, dann Rotarmisten und Kopftuchmuttchen, Popen und Ballettratten, Kosmonauten und Athleten, Zaren und Oligarchen. Doch anders als bei Strauss und Wagner, wo die Konfrontation der Musik mit ihrer Herkunft und ihrer Wirkung wie ein Spiegel wirkt, der einen neue Facetten der Werke entdecken lässt, will diese Art des Erzählens bei Tschaikowskys Oper nicht funktionieren.

Die ganze Bilderflut sorgt zwar für Opulenz und Abwechslung, führt aber eher von der Musik fort. Denn was ist schon dadurch gewonnen, wenn der Eklat zwischen den Freunden Lenski und Onegin bei Tatjanas Geburtstagsfest zum Ausbruch der Revolution erweitert wird und Rotarmisten die ganze Gesellschaft zusammenschießen? Und braucht es wirklich das gesamte ikonografische Figurenarsenal der russischen Geschichte, nur um zu zeigen, dass Onegin ein Außenseiter ist? Und was ist gewonnen, wenn die Erzählung zwischen Rückblenden, Traumbildern und gespielter Realität fortwährend hin- und herspringt?

Das Durcheinanderwirbeln von Erzählebenen haben Herheim und sein Dramaturgen-Mastermind Alexander Meier- Dörzenbach diesmal bis zum Exzess getrieben. Aufgerollt wird die Geschichte ohnehin vom Ende her, von der Begegnung Onegins mit der verheirateten Tatjana, die bei beiden eine Reihe von albtraumhaften Erinnerungen freisetzt. In dieser Traumwelt ist natürlich alles möglich: Dass der Wintergarten des russischen Nobelhotels, in dem Tatjanas Gatte Gremin zum Fest geladen hat, plötzlich zum rotierenden Erinnerungsraum wird, dass die Hotelfahrstühle seltsame Dinge ausspucken, dass sich aber der ganze Spuk ebenso plötzlich auch wieder verziehen kann und nur zwei Figuren in einer Hotelhalle übrig bleiben.

Da liegt freilich das Problem des Abends: dass am Ende nur zwei Herheim- Figuren übrig bleiben statt zweier trauriger Menschen. Im Gegensatz zu den zahllosen Stadttheater-Inszenierungen mit ihren heimeligen Tschechow-Veranden, die einem dennoch ans Herz greifen können, bleibt dieser Amsterdamer „Onegin“ eine recht nüchterne Angelegenheit. Die Schuld der Sänger ist das nur bedingt: Was soll selbst ein so fabelhafter Sänger wie der Russe Andrej Dunaev schon machen, wenn von der Figur des leidenschaftlichen Idealisten Lenski so gar nichts mehr übrig bleibt? Krassimira Stoyanova kann bei dem dauernden Wechsel der Erscheinungsformen (zeitweise mit Doppelgängerin im Schlepptau) die Entwicklung Tatjanas vom schwärmerischen Backfisch zur frustrierten Society-Lady nicht wirklich beglaubigen. Und selbst Bo Skovhus’ Onegin ist als ruheloser Dandy zwar glaubwürdig, aber mit seinem inzwischen schon recht schwergängigen Bariton auch eindimensionaler als sonst.

Die Subtilität, mit der Mariss Jansons und sein grandioses Concertgebouw Orkest Tschaikowskys Musik spielen, macht die Diskrepanz noch fühlbarer. Natürlich ist der Klang schon an sich ein Wunder: die seelenvollen Holzbläser, die edelmürben Celli und die Leichtigkeit, mit der die Violinen ihre Phrasen wie vom Himmel zu pflücken scheinen. Doch ist dieser Tschaikowsky-Sound eben nicht nur schön, sondern erzählt auf ganz selbstverständliche Art alles, was wahr und wichtig ist: Die Sehnsucht nach dem Unwiederbringlichen, die aus den Szenen der Landleute im ersten Akt herausklingt, die Erinnerung an unbeschwerte Momente und verklungene Feste. Mit einer mitunter fast beiläufigen Melancholie erzählt Jansons’ Tschaikowsky, dass man sein Lebensglück einfach verpassen kann, dass dies gar keine Frage von Schuld ist. Und dass die Wehmut alles ist, was uns bleibt.

Jörg Königsdorf

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