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Oper: Der ewige Träumer

Wenn Herzblut fließt: Barrie Kosky inszeniert in Hannover Benjamin Brittens Oper „Peter Grimes“. Ähnlich wie Calixto Bieito scheut auch Kosky die Drastik nicht.

Den größten Coup spart sich Barrie Kosky bis zum Schluss auf: Wenn Benjamin Britten seinen Peter Grimes zum Selbstmord auf die offene See schickt, versinkt der gescheiterte Opernheld im Staatstheater Hannover in einer gerade kleinkindhohen Holzkiste. Kaum ist der gleichmütige Wellenschlag der Musik verklungen, kommt ein Bühnenarbeiter und trägt diese Kiste seelenruhig fort – das Spiel ist aus, und die ganze dörfliche Hackordnung, die drei Stunden lang vor unseren Augen in beklemmender Konsequenz gegenwärtig war, hat sich in Luft aufgelöst wie ein bloßer Albtraum.

Solche Ideen sind typisch für den australischen Regisseur, der sich mit seinen Arbeiten an der Komischen Oper („Le Grand macabre“, „Figaro“, „Iphigenie auf Tauris“) in den letzten Jahren auch in Berlin ein Fanpublikum erobert hat. Wenn Kosky Oper macht, dann findet ein Theater statt, das Staunen macht, das ergreift und an die Wirksamkeit seiner Mittel wie an die Wahrhaftigkeit seiner Geschichten glaubt, ohne sich konzeptlastig fortwährend selbst infrage zu stellen. Dieser Zugriff, ähnlich dem Calixto Bieitos, scheut die Drastik nicht. Was die Zusammenhänge von unterdrückter Sexualität und Gewalt angeht, ist Kosky besonders hellhörig. Manchmal schütten die Sänger eben nicht nur ihr Herzblut auf der Bühne aus.

Dass der offensiv schwule Opernregisseur auf die homosexuellen Untertöne in Brittens Fischeroper reagieren würde, war zu erwarten. Doch zum Glück ist Kosky ein zu guter Regisseur, um den Grimes auf ein Homo-Drama zu verengen. Opfer sind bei ihm letztlich all die jämmerlichen Gestalten, die dieses Fischerdorf bevölkern und einander im offenen Bühnenraum beargwöhnen. Opfer und auch Täter – der von der Dorfgemeinschaft ausgegrenzte Grimes hat seinerseits keine Skrupel, seinen Lehrjungen grün und blau zu schlagen oder einen Junkie, der das unterste Ende der Sozialpyramide markieren soll, mit dem Fuß wegzutreten.

Andererseits gönnt Kosky auch den Unsympathen des Stücks jene Momente, die zeigen, dass auch in ihnen noch jener unzerstörbare Kern des Guten, Kindlichen steckt, der sie über das Chargenhafte – und das Stück übers Betroffenheitsdrama – hinaushebt. Wenn etwa der Hassprediger Bob Boles plötzlich in begreifendem Staunen zu den beiden faunhaft lasziven Jünglingen hinaufstarrt, die zur ruhig schillernden Mondscheinmusik Brittens Seifenblasen in die Luft pusten, wird dieses unerfüllte Leben genauso mitleidstauglich wie das des Titelhelden.

Den Traum, die Zeit zurückzudrehen und noch einmal anfangen zu können, so wie ihn Grimes in der Sturmszene im Dorfpub besingt, träumen letztlich alle. Das Wissen um seine Unerfüllbarkeit mündet entweder in Betäubung durch billigen Rausch, Selbstaufgabe oder Hass gegen alle, die wie Peter und die Lehrerin Ellen diesen Traum noch zu träumen wagen. Letztlich wollen sie alle wie die Kinder sein. Einer der erschütterndsten Momente des Abends ist es denn auch, wenn die Vorderwand von Grimes’ Hütte – bei Bühnenbildner Florian Parbs natürlich ebenfalls eine große Kiste – herunterklappt und ein Zimmer voller Kinderzeichnungen zeigt. Die Gewalt, die Grimes gegenüber seinen Lehrjungen ausübt, hat nichts mit Sexualität zu tun, umso mehr mit Eifersucht und Rachegefühlen angesichts des eigenen verkorksten Daseins. Dem Pazifisten Britten ging es hier nicht nur um diesen einen Außenseiter, sondern um den grundlegenden Mechanismus des Kreislaufs von Gewalt. Das 1945 uraufgeführte Stück dürfte für ihn auch eine Art Ursachenforschung im Anschluss an die beiden Weltkriege gewesen sein.

Der Stärke dieser Inszenierung kann es auch kaum etwas anhaben, dass die weibliche Hauptrolle krankheitsbedingt in eine stumme Darstellerin (Kelly God) und die von der Seite singende, innige Trosttöne spendende Einspringerin Brigitte Hahn aufgesplittet werden musste. Trotz herausragender Einzelleistungen wie Brian Davis’ Käpten Balstrode erweist es sich, dass ein mittelgroßes Opernhaus wie Hannover Brittens Oper zwar achtbar, aber eben doch nur mit Abstrichen realisieren kann. Unter dem Ansturm der Meeresgewalten wackeln die großen Chorszenen mitunter gefährlich. Hannovers Chefdirigent Wolfgang Bozic gibt dem Stück eine holzschnitthafte Kantigkeit, bei der Zwischentöne manchmal ebenso auf der Strecke bleiben wie bei Robert Künzlis an sich sehr sympathischem Grimes – dem Typ nimmt man zwar nicht seine lyrischen Eskapaden, aber immerhin die feste Verwurzelung in seinem Geburtsort ab.

Und Kosky? Der inszeniert in dieser Spielzeit zum Glück auch wieder an der Komischen Oper: „Kiss me, Kate!“ Auch dort wird nicht nur Herzblut fließen.

Wieder am 27. und 30. September.

Jörg Königsdorf

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