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Begegnungen mit Schlingensief (2): Oper im Urwald

Am Sonnabend starb der Regisseur Christoph Schlingensief. Seine Arbeit hat begeistert, aufgewühlt – und verstört. Erinnerungen an einen großen Künstler.

Das Flugzeug von São Paulo nach Manaus im Norden Brasiliens, mitten im Regenwald, ist klein, alt und sehr voll. Wir landen irgendwann kurz nach Mitternacht. Der Flughafen ist nichts als eine kleine Betonpiste im Wald, die schwüle, muffige Luft fühlt sich an wie in einer seit sehr langer Zeit nicht geöffneten Sauna. In Manaus, im einzigen Opernhaus im Amazonasgebiet, inszeniert Christoph Schlingensief im Frühjahr 2007 Wagners „Der fliegende Holländer“. Und weil er alles in sein Bezugssystem aus Beuys, Kino, Fluxus, Gesamtkunstwerk einbaut, ist klar, dass wir hier gerade in einem Remake von „Fitzcarraldo“ mitspielen.

Für Momente wird die ganze Stadt in den Augen des Besuchers zu einer Schlingensief-Installation. Und für Schlingensief wird der Amazonas zum Meer, über das der „Fliegende Holländer“ kommt. Schlingensief will nicht Wagner ins Amazonasgebiet bringen, sondern umgekehrt. Die animistischen Rituale, die arme Bevölkerung der Comunidad, die Reste indigener Stämme am Fluss bevölkern in seiner Inszenierung die Oper, ein Vorgang umgedrehter Kolonialisierung.

Am Rand des Platzes vor dem Opernhaus steht eine Kathedrale, auf der anderen Seite des Platzes finden in einem Keller Messen statt, in denen sich katholische und animistische Rituale vermischen. Christoph Schlingensief erzählt begeistert von diesem Synkretismus der Religionen. Das passt, weil auch seine Kunst zu diesem Zeitpunkt eine wilde Mischung aus Wagner, Fluxus und frühem Experimentalfilm ist.

Und es passt zu seinen eigenen religiösen Suchbewegungen, die immer etwas Kindliches, Ungeschütztes haben. Seine Beziehung zu Gott ist eine persönliche, ziemlich direkte Angelegenheit, kein in Tradition betoniertes Glaubenssystem. Als er während der Proben in eine seiner unvermeidlichen Krisen schlittert, verschwindet er, um wieder zu sich zu kommen, für ein paar Stunden in der Kathedrale. Die Brasilianer finden das ganz normal. Weniger gesund finden sie das europäische Desinteresse an Religion. Ihnen scheint das wie eine Form von spiritueller Verwahrlosung vorzukommen.

Ich habe Christoph Schlingensief nie so anhaltend glücklich, eins mit seiner Umgebung erlebt wie in Manaus. Die Brasilianer lieben ihn. Seine Krisenmomente und Aufgekratztheiten laufen hier nicht unter Künstlerexzentrik, sondern sind einfach etwas sehr Lebendiges. Einen Tag vor der Premiere zieht Schlingensief mit seinen Schauspielern, Musikern und der örtlichen Sambaschule in einer großen Prozession durch die Stadt – halb brasilianischer Karneval, halb abgedrehte Fluxus-Performance. Alle möglichen Leute, alte Damen, kleine Kinder, wollen ihn umarmen und er strahlt, dass es eine Freude ist.

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