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Kultur: Operation Klassik

Der Charité-Professor Stefan Willich hat das „World Doctors Orchestra“ gegründet – und dirigiert es heute in Berlin

Die Ähnlichkeit ist verstörend: Stefan N. Willich hat dieselbe imposante Statur wie Christian Thielemann, gleicht ihm in der Physiognomie – dieses energisch-dominante Kinn, diese aufmerksamen Augen, die dennoch eine leichte Tendenz zur Rötung zeigen! –, er trägt seine Haare nach derselben Façon und hat sogar beim Sprechen einen ähnlichen Tonfall. Beide Männer wurden 1959 geboren. Christian Thielemann ist einer der gefragtesten Dirigenten der Welt. Stefan N. Willich ist Kardiologe, Medizinprofessor, Direktor des Instituts für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie an der Berliner Charité – und Maestro.

2007 rief er das „World Doctors Orchestra“ ins Leben, dessen allererstes Konzert er am heutigen Sonntag dirigieren wird: Unter seiner Leitung werden 80 Ärzte aus 20 Ländern im Kammermusiksaal der Philharmonie ein höchst anspruchsvolles Programm unter anderem mit Dvoráks Sinfonie „Aus der Neuen Welt“ und Beethovens Violinkonzert absolvieren.

Klassik spielte im Leben des Stefan N. Willich von Anfang an eine große Rolle. Sein Düsseldorfer Elternhaus war bildungsbürgerlich geprägt, der Vater spielte in seinen Mußestunden Cello, die Mutter war begeisterte Laienchorsängerin und nahm den Filius schon im Alter von sechs Jahren mit zu den Proben, wo er bis zum Stimmbruch die Gruppe der Altistinnen verstärkte. Früh entdeckte er auch seine Liebe zur Geige und hätte die Musik fast zu seinem Beruf gemacht. Doch nach zwei Semestern in Stuttgart gestand er sich ein, dass das „N“ in seinem Namen doch nicht für „Niccolò“ stand, dass ihm bei aller Begabung die ganz große Teufelsgeigerkarriere à la Paganini wohl verwehrt bleiben würde. „Mich beschlich die Angst vor einer mittelmäßigen beruflichen Situation“, gibt er heute zu. „Jahrzehntelang irgendwo in der Provinz in einem Stadttheater zu spielen, das hätte zu viel Frust bedeutet.“

Also verzichtete er auf die Leidenschaft und entschied sich ganz rational für die Medizinerlaufbahn. Wenn er seinen privaten Traum schon nicht verwirklichen konnte, dann wollte er wenigstens „etwas wirklich Wichtiges für alle Menschen tun“.

Genau das macht Stefan Willich seit 1995 am Berliner Universitätskrankenhaus, als Leiter einer Abteilung, die sich mit der Verbesserung präventivmedizinischer Strategien befasst, nicht nur in Bezug auf die Charité, sondern vor allem auch in globalen Zusammenhängen. „Medizinische Versorgung ist ein Menschenrecht“, findet Willich und will seine Ärzteorchester-Initiative darum auch als Plädoyer verstanden wissen, „eine von nationalen Grenzen, politischen und wirtschaftlichen Interessen unabhängige medizinische Versorgung der gesamten Weltbevölkerung zu realisieren“. Die Einnahmen des Konzerts vom Sonntag gehen komplett an zwei karitative Projekte: an ein Lepra-Krankenhaus des „Hilfswerks Indien“ sowie an die „Hugo-Tempelmann-Stiftung“, die in den südafrikanischen Townships gegen Aids kämpft.

Das gehört zu den Vorteilen eines Mediziner-Laienensembles: Die Mitglieder können es sich leisten, Kosten für Anreise und Unterkunft vor Ort selber aufzubringen, um dann zum Wohle anderer zu spielen. Warum sich im Vergleich zu anderen akademischen Berufsgruppen so viele Ärzte als Freizeitinstrumentalisten engagieren, hat der Soziologe Theodor W. Adorno einst übrigens als „Protest“ gegen einen bürgerlichen Beruf gedeutet, „der dem Intellektuellen, der ihn ergreift, besonders viel zumutet, Opfer verlangt, wie sie sonst nur von körperlich Arbeitenden verlangt werden: Ekelerregendes berühren und über die eigene Zeit nicht verfügen, sondern auf Abruf warten. Die musikalische Sublimierung in der Musik entschädigt dafür. Sie wäre die geistige Tätigkeit, um die der Arzt betrogen sich fühlt.“

Stefan Willich sieht aber auch konkrete Parallelen zwischen Musikern und Medizinern: Das beginnt mit einer langen, harten und entbehrungsreichen Ausbildung, die in einen Beruf mündet, bei dem man ein enormes Fachwissen benötigt, das sich im Alltag aber nie schematisch anwenden lässt: So wie die bekannteste Partitur immer wieder neu befragt werden muss, stellt sich auch der Arzt auf jeden Patienten individuell ein. Als Belohnung für die Plackerei winkt allerdings die Dankbarkeit der Menschen, die sich nach dem Besuch von Praxis oder Konzertsaal besser fühlen.

In einem Vortrag mit dem Titel „Der Arzt in der Oper“ konnte Willich jüngst bei der vom Tagesspiegel präsentierten Charité-Vorlesungsreihe im Maxim Gorki Theater nachweisen, dass mit Ausnahme von „Hoffmanns Erzählungen“ die unzähligen Toten der Musiktheatergeschichte nicht auf das Konto von Quacksalbern gehen. In Donizettis „Liebestrank“ wird Dottore Dulcamara sogar zum Ehestifter, indem er den schüchternen Tenor durch eine zum Wunderelixier erklärte Flasche Bordeaux so locker macht, dass der sich endlich traut, seine geliebte Adina anzuflirten. Logisch, dass die Ouvertüre der Oper am Beginn des Programms steht, das sich die aus aller Welt eingeflogenen Ärzte seit dem 1. Mai in nur drei Tagen erarbeitet haben – mit Hilfe von Profimusikern aus Berliner Orchestern und Probenzeiten, die locker an die Länge einer Herztransplantation heranreichen.

Willich selber zeigt keinerlei Nervenflattern vor seinem Debüt als Mediziner-Maestro – zum einen, weil alle Teilnehmer eine solide musikalische Bildung haben, zum anderen, weil er sich selber in der Musik so zu Hause fühlt wie Jan Josef Liefers als Münsteraner „Tatort“-Pathologe: Während sein TV-Kollege beim Leichenzerlegen Klassik aus dem CD-Player dröhnen lässt, hat Willich auch nach dem Schwenk zur Medizin in seiner Freizeit stets selber aktiv Musik gemacht, bei Kammermusik-Urlauben mit Freunden, als Geigenspieler in diversen Formationen und gelegentlicher Leiter von Chören und Studentenensembles.

Einer wie Stefan Willich leistet sich keine Kunstfehler. Die Begeisterung für Johannes Brahms und Gustav Mahler, dessen Sinfonien der bekennende Romantik-Fan als Zuhörer am meisten schätzt, hat er allerdings diesmal zugunsten eines „machbaren“ Programms zurückgestellt. Für die Zukunft aber plant der Professor schon jetzt ganz groß, will mit dem „World Doctors Orchestra“ alle Kontinente bespielen, musizierende Ärzte aus Krisengebieten einladen. Eine weitere Parallele zu seinem Geistesbruder Christian Thielemann: Der verstand sich auch noch nie auf die Politik der kleinen Schritte.

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