zum Hauptinhalt
Begehrte Randlage. Die Plattenhäuser an der Allee der Kosmonauten hatten Müllschlucker, Fernsehanschluss und sogar Telefon - und die Verkehrsanbindung war auch günstig.

© Thilo Rückeis

Berliner Häuser (10): Paläste der Republik

Früher war er Luxus, der Plattenbau in der Allee der Kosmonauten 56/58 in Marzahn. Auch heute will dort keiner mehr weg.

Von David Ensikat

Im August 1978 flog der Fliegerkosmonaut Sigmund Jähn als erster Deutscher ins All, im September 1978 benannte die Staats- und Parteiführung zu seinen Ehren und unter Berücksichtigung der historisch-materialistischen Erkenntnisse über die Rolle der Persönlichkeit in der Weltgeschichte die längste Straße des größten Wohnungsneubaukomplexes des größten sozialistischen Landes auf deutschem Boden nach Helden seinesgleichen: Allee der Kosmonauten.

Zwei Monate später bezogen Astrid und Uwe Wölms mit Tochter Martina ihre Wohnung im frisch erbauten Haus Nr. 56 an eben jener Allee der Kosmonauten in Berlin-Marzahn, einem elfstöckigen Plattenbau der „Wohnungsbauserie 70“, kurz „WBS 70/112“. Drei Zimmer, 61 Quadratmeter, ein sechs Meter breiter Balkon, Küche mit Fenster, Bad mit Badewanne, Zentralheizung, Warmwasser, Müllschlucker auf dem Flur, ein Fahrstuhl, den die Wölms’ aber nicht benötigten, ihre Wohnung ist in der ersten Etage.

Schon damals gab es viele, die sich über die Menschen wunderten, die in die „Arbeiterschließfächer“ in den zugigen Plattensiedlungen zogen und sich darüber auch noch freuten. Im Fall der Wölms’ lag es an ihrer vorherigen Wohnung: ein Zimmer, Ofenheizung, kein Bad, das Außenklo eine halbe Treppe höher in einem bröselnden Altbauhaus in der düsteren Gegend am Ostkreuz.

Die Wohnungsnot der Wölms’ war groß, wie die Wohnungsnot im ganzen Land. Fürs Land beschloss die Partei das Wohnungsbauprogramm, nicht minder planmäßig ging die Familie vor: Herr Wölms, Elektroingenieur, nahm 1977 eine Stelle bei der Werkzeugmaschinenfabrik Marzahn an, weil es dort eine Wohnungsbaugenossenschaft für die Mitarbeiter gab. Nach ein paar Monaten war er Mitglied des Genossenschaftsvorstandes. Und Anwärter auf eine Wohnung.

Gut 3000 Mark der DDR betrug die Genossenschaftseinlage, von der 1800 Mark zu zahlen und der Rest in Arbeitsstunden abzuleisten waren. „Eigenleistung“ hieß das, wurde mit zehn Mark pro Stunde verrechnet und bedeutete: 16 Arbeitstage lang Bauschutt schippen und Freiflächen begrünen. Die Wölms’ wirkten gerne mit an dem Wohnungsbauprogramm, denn es war das ihre.

Ende 1978 war das Haus an der Allee der Kosmonauten vollständig bezogen, vor allem von Familien mit Kindern. Im Haus gab es fast nur Drei- und Vierzimmerwohnungen, drei Zimmer für Familien mit einem Kind, vier für die mit zweien, so bestimmten es die Regeln der Genossenschaft. Tagsüber war es still im Haus. Denn die „werktätigen“ Bewohner, also sämtliche erwachsenen, verließen es am Morgen, am besten mit Gummistiefeln, weil man zwischen den Neubauten noch im Schlamm versank. Ihre kleinen Kinder brachten sie in die Kindergärten, die größeren liefen in die Schule. Auch die Kaufhalle stand bereits, als das Haus Nummer 56 fertig wurde, nur Schwimmhalle, Kino und Rathaus fehlten noch. Mit dem Bus kam man nach Lichtenberg, mit der S-Bahn nach Mitte, und die Leute fanden: Wir haben alles, und so weit draußen wohnen wir gar nicht!

Die Wohnungen im Haus mögen hellhörig gewesen sein, in die Betonwände bekam man ohne Schlagbohrmaschine keine Dübel (und Schlagbohrmaschinen waren so rar wie Farbfernseher und Tiefkühlschränke). Dafür war das Haus verkabelt. Durchs Fernsehkabel gelangten sogar die Westprogramme; möglicherweise gingen die Verantwortlichen davon aus, dass in der Platte die treuesten DDR-Menschen wohnten, glücklich über ihre rechteckigen Nischen, immun gegen die Verlockungen des Westens. Und dann stellte man den Wölms’ noch eine gänzlich unerhörte Frage: Wollen Sie einen Telefonanschluss? Das klang wie: Hätten Sie gern ein Dauervisum? „Komisch war das“, staunt Astrid Wölms noch heute. „Man hatte keine Stasi-Kontakte, und dann kriegte man, bumms, so’n Telefon.“

Sie wohnt noch heute hier, und sie heißt gar nicht mehr Wölms, denn von Herrn Wölms hat sie sich 1986 scheiden lassen. Sie wohnt in ihrer alten Neubauwohnung mit ihrem zweiten Mann, Herrn Gottwald. Auch er ist 1978 mit Familie nach Marzahn gezogen. Bei ihm war’s die Frau, über deren Firma die Wohnungssache geregelt wurde. Als er sich von ihr scheiden ließ, bekam er erstaunlich schnell eine Einzimmerwohnung in einer anderen Marzahner Platte, ganz oben, elfter Stock, da wohnt jetzt seine Tochter drin.

Hier, im ersten Stock der Allee der Kosmonauten 56, fühlt er sich aber auch sehr wohl. Obwohl draußen der Rasenmäher dröhnt: „Kaum ist das Gras mal einen Zentimeter gewachsen, schon mähen sie’s wieder ab. Und die Hasen gucken am Abend dumm.“ Inzwischen sind alle Rohre im Haus ausgetauscht – früher ist immer mal eins kaputt gegangen, besonders hier unten, wo der Druck am größten ist, dann gab es eine Überschwemmung, und es empfahl sich, das Rohr im Keller noch mal kaputt zu hauen, damit dort die Brühe rauslief. Auch Fenster und Wohnungstür sind neu, der Giebel ist mit einer Isolierschicht versehen, ein paar Fassadenplatten wurden angemalt. Viel mehr war an dem Haus nicht zu machen.

Die „Erste Marzahner Wohnungsgenossenschaft“, so heißt sie heute, ist zufrieden mit den WBS-70-Häusern. Sie haben sei jeher wärmeisolierte Wände, und die Grundrisse der Wohnungen sind variabel. Im Gegensatz zu anderen Plattenhaustypen lassen sich die dünnen, nicht tragenden Wände entfernen. Aus vier Zimmern können drei werden, aus dreien zwei, die Ansprüche sind längst nicht mehr so bescheiden wie zur DDR-Zeit. Die Mieten auch nicht, wenn sie auch, verglichen mit Altbauten in der Innenstadt, noch immer fair erscheinen: Die Wölms’ zahlten früher 140 Mark der DDR, heute sind es 450 Euro, warm.

In dem Haus wohnen noch immer viele von denen, die 1978 eingezogen sind, Astrid Gottwald glaubt, es sind die meisten. Die „Erstbezügler“ sind ganz gut erkennbar: Es sind die Alten. Die Aushänge im Eingangsbereich heißen: „Der Seniorenbeirat informiert“ oder „Ein gemütlicher Nachmittag für alle ab 60+“.

Wenn hier so viele so lang wohnen, müssten sie sich doch allmählich kennen? Aber das ist hier ein Hochhaus, man trifft sich nicht auf der Treppe. Astrid Gottwald weiß immerhin, dass die Frau, die über ihr wohnt, Asthma hat – sie hört das Husten durch die Zimmerdecke. Sie kann sich auch nicht erinnern, dass es zur DDR-Zeit kuschliger zugegangen wäre. Doch, einmal gab es ein Hausgemeinschaftsfest, irgendwann in den Achtzigern. Da haben sie den Strom für die Musikanlage aus ihrer Wohnung über den Balkon in den Hof gelegt. Und damals mussten die Mieter auch den Hausflur selbst sauber machen, da bedurfte es hin und wieder einer Absprache. Aber das, sagt Astrid Gottwald, war Gott sei Dank nach der Wende schnell vorbei. In der untersten Etage musste sie ja viel mehr Dreck wegmachen, weil hier alle von draußen reinkommen.

Sie will hier wohnen bleiben, sagt Astrid Gottwald, bis sie sie raustragen. Ist doch ein gutes Haus, man hat alles, was man braucht. „Wollen nur hoffen, dass sie die Miete nicht hochsetzen. Toi, toi, toi!“ Sie klopft auf den Tisch, zögert: „Ist doch echtes Holz, oder?“, guckt drunter und ist erleichtert. „Ja, isses.“ Der Tisch ist viel jünger als das Haus.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false