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Kultur: Pascha im Jenseits - Der Moskauer Autor zu Gast in Berlin

Meist ist es ein kleiner Hof am Stadtrand von Moskau. Hier findet der russische Schriftsteller Jurij Mamlejew die Menschen, die seine Kurzgeschichten besiedeln.

Meist ist es ein kleiner Hof am Stadtrand von Moskau. Hier findet der russische Schriftsteller Jurij Mamlejew die Menschen, die seine Kurzgeschichten besiedeln. Wie Pascha, den starken, vierzigjährigen Mann, der mit schlaffem Bauch und im Unterleibchen den Nachbarn von seinem irrtümlichen Besuch im Jenseits erzählt. Dort, wo es keinen Sex gibt, wo man sich nur wegen des Gesprächs liebt. Bis heute weiß Mamlejew nicht, wieso er die Erzählung "Der Mystiker" in der Sowjetunion der frühen 70er Jahre nicht veröffentlichen durfte. Es wird wohl weniger an der Schilderung des Jenseitigen gelegen haben als an den kaputten Gestalten, die Mamlejews Hinterhöfe bevölkern. Figuren wie die kaum volljährige Hofprostituierte Lidotschka, "das magere Mädchen im angeschissenen Kleid", das mit Pascha aus Liebe im dunklen Kellerloch verschwindet, passten sicherlich nicht in das Bild des Sozialismus.

Mamlejew ist im Westen bisher kaum bekannt. In Russland zählt er zu den bekanntesten und radikalsten Vertretern der literarischen Avantgarde. Im Literarischen Colloquium Berlin, wo Mamlejew bis Ende des Monats als Autor weilt, hat er nun seinen aktuellen Erzählungsband "Der Tod des Erotomanen" (Residenz Verlag, 1998) vorgestellt. Mit leicht gebücktem Gang, eine Aktentasche in der Hand, tritt Mamlejew vor sein Publikum. Um das Russische erklingen zu lassen, liest er Fragmente seiner Texte mit angestrengter Stimme, ganz verliebt in die Worte. Die deutsche Übersetzung folgt. Bis auf ein verschmitztes Lächeln ab und zu ist dann von dem etwas müde wirkenden Autor zunächst nichts mehr zu vernehmen. Erst später im Gespräch lebt er wieder ein wenig auf.

Mamlejews Erzählungen sind ein Gang durch die finstersten Abgründe der menschlichen Psyche. Wider den guten literarischen Geschmack entwirft der Autor Bilder des Verbrechens, spricht von Perversionen wie Nekrophilie und Sodomie, von Dreck, Blut und Sperma, und immer wieder trifft er auf den Tod. Trotz aller Ungeheuerlichkeiten verliert Mamlejew nie seinen Sinn für den absurden Humor, ganz in der Tradition eines Daniil Charms. Auch ist es kein dumpfes Ergötzen am Grauen und Ekel, das ihn treibt, sondern die Suche nach dem Geheimnis von Leben und Tod, nach dem Jenseits, nach unbekannten Formen des menschlichen Daseins. Und dabei lässt er neben allen Bösartigkeiten und derben Zoten auch eine zärtliche Poesie durchblicken.

Heute lehrt Mamlejew an einer Moskauer Universität Indische Philosophie. Die Sowjetunion hatte er 1975 verlassen müssen, über die USA kam er nach Paris, wo der 68-Jährige heute lebt, wenn er nicht in Moskau ist. In den 60er Jahren waren Mamlejews Texte im "Samisdat" (Eigenverlag) erschienen. Im literarischen Untergrund Moskaus gründete er einen Zirkel namens "Sexuelle Mystiker", der sich bei illegalen Treffen in Wohnküchen den Fragen nach dem Rätsel des Todes und den verborgenen Seiten der menschlichen Seele hingab. Mamlejews Texte umreißen diese dunkle Seite als ein zweites Ich, das jenseits der dünnen Haut des Tagesbewusstseins existiert. Eine Vorstellung, mit der er sich sowohl seinem Vorbild Dostojewski nähert als auch dem Surrealismus und der indischen Philosophie. Mittlerweile ist Mamlejew selbst zum Vorbild geworden: Autoren wie Vladimir Sorokin bezeichnen ihn als geistigen Vater.

Jan Kixmüller

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