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PAUKEN & Trompeten: Berühmt, berüchtigt

Jörg Königsdorf über die Tragik totgespielter Kompositionen

Gäbe es eine Hitliste der berüchtigten Meisterwerke, Tschaikowskys erstes Klavierkonzert stünde – neben Beethovens „Mondschein-Sonate“ und Strauss’ „Zarathustra“ – weit oben. Die spektakuläre Einleitung mit den klotzigen Klavierakkorden, über die sich das schwermütige Thema des Orchesters ergießt, ist quasi zum Inbegriff der ganzen Gattung geworden und löst unfehlbar das Wiedererkennungssignal kollektiven „Aah!“-Raunens aus. Weshalb jeder, der sich für klassikkundig hält, über den Reißer die Nase rümpft. Das eigentliche Kreuz aber ist, dass jeder Interpret zwangsläufig versucht, sich von den Kollegen abzugrenzen und das Stück mit noch extremeren Tempounterschieden und noch lauter zu spielen – bis es zum Zerrbild seiner selbst wird. Die Aufführungen bestätigen dann nur noch das Klischee, das sie selbst geschaffen haben. Dass das berühmte Thema nach Tschaikowskys Willen gar nicht so gravitätisch klingen sollte, wird unter den Teppich gekehrt.

In Potsdam will der Pianist Vladimir Stoupel das Tschaikowsky-Konzert nun wieder zu dem machen, was es ursprünglich war: ein ebenso poetisches wie radikales, die Konventionen des 19. Jahrhunderts sprengendes Meisterwerk. In Berlin hat Stoupel seine Interpretation bereits vor einem Monat vorgestellt und enthusiastische Kritiken geerntet. Im Nikolaisaal nimmt er heute im Rahmen der Gesprächskonzerte das Stück zusammen mit dem Brandenburgischen Staatsorchester Frankfurt/Oder, dessen neuem Chefdirigenten Howard Griffiths und dem Moderator Clemens Goldberg unter die Lupe. Vielleicht raunt das Publikum hier am Ende nicht mehr „Aah!“, sondern „Aha!“.

Jörg Königsdorf

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