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PAUKEN & Trompeten: Proll over Beethoven

Jörg Königsdorf über ein Orchester mit sozialem Brennpunkt

Um die größte Erfolgsgeschichte der deutschen Klassikszene zu erleben, muss man in den Bremer Stadtteil Osterholz fahren. Genauer gesagt in die Gesamtschule Bremen-Ost, einem gewöhnungsbedürftigen Siebziger-Jahre-Bau, dessen Schulhof schon so trostlos ist, dass die Schüler ihn „Vietnam“ getauft haben. Ausgerechnet hier, mitten in einem Stadtteil, der sonst nur durch die sozialen Spannungen zwischen seinen verschiedenen Bevölkerungsgruppen in die Schlagzeilen kommt, ist die Heimat der Deutschen Kammerphilharmonie. Hier proben die Musiker ihre Konzertprogramme, nehmen ihre CDs auf und zeigen vor allem durch ihre regelmäßige Zusammenarbeit mit den Schülern, dass man tatsächlich jede Bevölkerungsgruppe für klassische Musik begeistern kann, wenn man diese Aufgabe nur ernst nimmt. Für sein Engagement hat das Orchester in diesem Jahr den Preis des „Zukunftsawards“ für die „beste soziale Innovation“ erhalten, und gerade erst hatte mit der Soap Opera „Melodie des Lebens“ die erste Folge eines von Schülern und Musikern gemeinsam entwickelten Projekts Premiere. Selbst die Schüler, die mit Klassik nichts am Hut haben – das dürfte die Mehrzahl sein –, sind mittlerweile stolz darauf, dass sich bei ihnen ein Ensemble niedergelassen hat, das in den großen Konzertsälen der Welt triumphiert. Von dssen Beethoven-CDs dürften unter der Schülerschaft ein paar Hundert Raubkopien kursieren.

Grund, auf ihre Nachbarn stolz zu sein, haben die Bremer Schüler allerdings: Denn mit den ersten beiden Folgen ihrer Einspielung der Beethoven-Sinfonien haben sich die Bremer in der internationalen Ensemble-Elite ganz nach oben katapultiert. Die Aufnahmen unter Chefdirigent Paavo Järvi sind das Aufregendste, was es in Sachen Beethoven derzeit zu hören gibt und heben in ihrer atemberaubenden Virtuosität die Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis noch einmal auf ein neues Niveau. Tatsächlich geben die rhythmische Unerbittlichkeit und die teils an der Grenze des Spielbaren liegenden Tempi den Sinfonien etwas vom Grenzen sprengenden Elan Neuer Musik zurück – Järvis Beethoven ist kein gediegener Klassiker, sondern ein genialer Revolutionär. Jetzt gibt es endlich auch die Gelegenheit, diesen Beethoven fürs 21. Jahrhundert auch in Berlin zu hören: Am Montag stehen mit dem Violinkonzert (mit Victoria Mullova), der „Coriolan“-Ouvertüre und der „Pastorale“ drei zentrale Beethoven- Werke auf dem Programm. Leider nur im Kammermusiksaal und nicht in der Rütli-Schule. Aber das können die Berliner Kollegen ja nachholen.

Jörg Königsdorf

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