zum Hauptinhalt

Kultur: Peng! Du bist nicht tot!

Das Musiktheater kennt keine wirklich starken Frauen? Das sehen neuerdings viele Regisseure anders. Eine Weissagung zum Ende der Opernsaison

Sogar Violetta Valéry darf es, Verdis Traviata, die Kameliendame und vom Wege Abgekommene: Liegt am Ende keineswegs mit schwarzen Augenringen auf der Totenbahr‘ und spuckt röchelnd („È strano!“) ein letztes Tröpflein Blut, sondern packt erstens ihren Koffer und zweitens Annina („O gioia!“) und wandert aus. In Brasilien, so verheißen es die Fähnchen, mit denen sie zum Abschied lustig winken, werden die beiden ein besseres Leben finden. Eines, in dem Frauen nicht länger an den so genannten Verhältnissen ersticken. Und vielleicht auch eines, in dem Cathérine Clément nach 25 Jahren endlich Lügen gestraft wird. Das „heimliche Ziel der Oper“ bestehe in der Ausweglosigkeit des Frauensterbens auf der Bühne, so hat es die französische Philosophin einst nicht eben charmant formuliert (charmant weder für die Werke noch für die Frauen).

Prompt dreht sich neuerdings auch Lulus Schicksal um. Berg/Wedekinds ominöse „Urgestalt des Weibes“, dieses leibhaftige Lust- und Angstprinzip der Moderne, es wird nicht länger von Jack the Ripper gemeuchelt, sondern tut nur so. Steht ganz cool wieder auf, schnappt sich eine Sonnenbrille und haut ab. Oder stirbt überhaupt nicht mehr, andernorts, sondern würgt dem Blödian Alwa bloß eine letzte kleine Ungeheuerlichkeit rein („Ist das der Diwan, – auf dem sich – dein Vater – verblutet hat? –“), zieht sich warm an und knallt mit der Tür. Als Frau stirbt man heutzutage bestenfalls noch einen vorgeführten, grinsend werkgetreuen und falschen Tod, sagen diese Theaterbilder. Klar, dass die Herren Komponisten sich dagegen früher oder später zur Wehr setzen würden. Janaceks Emilia zum Beispiel („Die Sache Makropulos“) fordert zum bösen Schluss keineswegs, wie das Stück es will, die unbedingte Verlängerung ihres 330-jährigen Methusalem-Daseins, sondern ein eigenes, garantiert zaubersaftfreies Leben. Halt, ruft da die Regie und überlässt es ihrer stummen Janacek-Figur höchstpersönlich, die Aufmüpfige in die Schranken zu weisen: Ich, Janacek, bin dein Herr und Erfinder, du, Emilia, bleibst Bühnenpersonal, Kunstmaterial, Lehm in meinen Händen – und gefälligst willig.

So geschehen in dieser Saison an den Opernhäusern von Hannover, Hamburg, Frankfurt und Stuttgart. Die Frau, die das klingende Frauenopfer verweigert, die Frau, die sich auf dem Absatz umdreht und in die „entgegengesetzte Richtung“ marschiert, die Frau, die beherzt von der finalen Bildfläche verschwindet – das Spielzeit- Thema 2003/2004. Ein Phänomen und seine Phänomenologie. Calixto Bieito, Peter Konwitschny, David Alden und Hans Neuenfels die Namen der Regisseure, Albrecht Puhlmann, Louwrens Langevoort, Bernd Loebe und Klaus Zehelein die der Intendanten. Dass die Partituren allesamt von männlichen Künstlern komponiert und dirigiert wurden, muss hier gewiss nicht eigens betont werden.

Dabei ist das Ganze ja lobenswert. Das Kernrepertoire der Oper kennt kaum starke, überlebenstüchtige und in diesem Sinn „emanzipierte“ Frauen – erfinden wir uns also welche dazu! Die Oper liebt schöne Leichen, Schwind- und Todessüchtige – hauchen wir ihnen ein neues, wildes, ungebärdiges Leben ein! Die Oper transportiert ein Frauenbild, das spätestens seit den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts nicht mehr hinzunehmen war und ist – warum haben wir es nicht längst auf den Kopf gestellt, allen mäßigen Libretti und genialen Partituren zum Trotz, zu deren und unserem Besseren?!

Ja, hat denn die gesamte Männerwelt plötzlich ihre liebe Sorge um das „schwache“ Geschlecht entdeckt? Verwandeln sich alle Chauvinisten vor unseren Augen und Ohren mit einem Mal in passionierte Frauenversteher, empfindsam Mitleidende und militante Verfechter der Gleichberechtigung? Damit wir uns nicht falsch verstehen: Aida als Putzfrau – diese Geschichte hat einen langen, zerzausten Bart. Hier und heute geht es ums Ende, um die Verneinung des Todes, um Überleben als Metapher.

Dass die Opernregie in der Frauenfrage umdisponiert, gehorcht zuallererst dem Selbsterhaltungsstrieb des Metiers, seinem tradierten Machtanspruch. Je älter die Stücke werden und je weniger sich die Realitäten entsprechen, desto unaufhaltsamer wächst die Gefahr der Entfremdung, das gegenseitige Sich-Verlieren und Abhandenkommen (das Aperçu ist alt, aber gut: Noch zu Beethovens Zeit galt öffentlich aufgeführte Musik von „Toten“ als Exotikum!). Eine Zeit lang mögen derlei Differenzerfahrungen ja spaßig sein, und natürlich ist das Ganze keine Frage der Chronologie: Wagners „Parsifal“ etwa dürfte unserer Postpostmoderne nach wie vor stärker widerstreben als das grell flackernde Patchwork einer x-beliebigen Barockoper. Irgendwann aber und je länger wir auf Bühnenweihfestspielen wie dem „Parsifal“ beharren, zerreißt der Dauerspagat den rezeptionsästhetischen Körper. Dann wandert die Oper ins Museum, und die Gegenwart büßt die nächste Hirnrinde ihres kulturellen Gedächtnisses ein. Und dann helfen auch keine rhetorischen Selbstbeschwörungsformeln mehr, die auf die kathartische „Schönheit“ der Musik pochen oder auf die Unverwüstlichkeit der Klassiker.

Denn das, was mit uns nichts zu tun hat, kann im Kunstvollzug und/oder -genuss nur so lange helfen und heilen und trösten, so lange es authentisch und irgend glaubwürdig ist. Die Werke müssen wissen, zu wem sie sprechen, und dieses Wissen, dieser Erfahrungsspeicher muss kenntlich und konkret gemacht werden dürfen. Sonst reden wir demnächst von der Oper (und die Oper über uns!) wie der Papst von der Pille in der Dritten Welt: abstrakt und letztlich – respektlos.

Es ist banal, aber wahr: Ein Musiktheater, in dem Männer wie Frauen oben auf der Bühne Dinge tun und denken und fühlen, die Frauen wie Männer unten im Saal nicht – ex negativo wie ex positivo – auf sich beziehen können, ein solches Musiktheater schafft sich selber ab. Und da es mit der Produktion von zeitgenössischen Themen und Stoffen bis auf weiteres kompliziert aussieht, können alle lebensverlängernden Maßnahmen nur hausgemachte sein. Deshalb schlägt die Oper zur Zeit keinen größeren Krach, deshalb implodiert sie eher still vor sich hin. Textbücher, Partituren und Figuren werden von innen ausgebeult, auf Duldsamkeit und Elastizität geprüft und in die Reichhaltigkeit ihrer Extreme getrieben. Just hier legt die Frauenfrage den Finger in die Wunde. Was darf Regie? Wo liegen die Verantwortlichkeiten im nachschöpferischen Akt? Und: Können wir uns die heilige Geschlossenheit unseres Werkbegriffs überhaupt noch leisten? Das sind sie, die frisch geschliffenen Klingen, über die jede halbwegs wahrhaftige, lebendige Inszenierung in Zukunft wird springen müssen.

Ein Beispiel: Wenn sich Konstanze in Mozarts „Entführung“ an der Komischen Oper Berlin selbst die Kugel gibt, dann folgt das einerseits und aufs erste Hören weder aus dem Text („Seine“ – also des Bassas – „holde Scheitel prange,/Voll von Jubel, voll von Ruhm.“) noch aus der Musik. Andererseits aber komponiert Mozart hier ein Vaudeville-Finale, das heißt, er katapultiert sich mittels einer dezidiert populären Nummer am eigenen Schopf aus jeder Singspiel-Ästhetik. Der der opéra comique entlehnte Rundgesang, er setzt somit Gesetze außer Kraft, kündigt Verabredungen auf, sorgt in seinem circensisch überdrehten Wahn für ein jähes, offenes Ende. Warum sollte es nicht möglich und legitim sein, ihn szenisch entsprechend zu veranschaulichen?

Ähnliche Beobachtungen übrigens dürfen für die Marternarie (Trugschluss auf „Tod“!) und das Quartett gelten – wie die Aufführung ihre ganze glühende Intensität überhaupt nie hätte erreichen können, wenn sie mit der unverhohlen realistischen Drastik ihrer Mittel jemals gegen die Musik zu Felde gezogen wäre. Mozart bleibt ihre erste und letzte Referenz.

Vielleicht ist diese „Entführung“ aber noch viel hellsichtiger. Denn wenn uns die Oper all ihren verzweifelten, hoffnungsfroh rabiaten Umdeutungsversuchen zum Trotz immer rettungsloser abhanden kommt: Kann es nicht sein, dass unsere dialektisch geschulte Wahrnehmung daran schuld ist? Wer sagt denn, dass die Opernlust sich einzig aus der Differenz speist, aus dem gebildeten Wissen um Textvorlage und „Original“ einerseits und Lesart, Interpretation, Versinnlichung andererseits? Wer sagt denn, dass der emotionale Faktor, dass Läuterung und Moral nicht auch dann stimmen könen, wenn der Vergleich fehlt, und wenn sich eine Aufführung – mit Respekt, wohlgemerkt! – von den allgemein verträglichen Hör- und Sehgewohnheiten loseist?

Ja, ist der Zuschauer, der noch nie in seinem Leben in der Oper war, zwangsläufig der schlechtere? Und wie gehen wir eigentlich damit um, dass wir im Zuge der kulturellen Amnesie demnächst mit Heerscharen solcher „Minderbemittelten“ konfrontiert werden? Das sind die Fragen, die Calixto Bieitos „Entführung“ stellt. Denkt man sie zu Ende, landet man da, wo die Oper vor 400 Jahren begonnen hat. Ein Mensch steht auf einer Kiste, und ein anderer schenkt ihm seine Aufmerksamkeit. Theater als Ereignis, so natürlich wie möglich, so künstlich wie nötig. Und wer weiß, vielleicht haben die verschwundenen Bühnenfrauen dieser Saison ja genau das im Gepäck, wenn sie uns eines schönen fernen Tages wieder beehren.

Christine Lemke-Matwey

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false