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Céline Sciamma inszeniert in "Petite Maman" die Begegnung einer Achtjährigen mit ihrer eigenen Mutter als ebenfalls achtjähriges Mädchen.

© AFP/Joel Saget

"Petite Maman" auf der Berlinale: Regisseurin Sciamma: "Es ist ein Tanz mit den Geistern"

Die Französin Céline Sciamma präsentiert mit "Petite Maman" einen der schönsten Filme der aktuellen Sommer-Berlinale. Ein Gespräch über Kinder, Erinnerung - und die Kraft der Fantasie.

Von Andreas Busche

Die französische Regisseurin und Autorin Céline Sciamma, Jahrgang 1978, gehört spätestens seit ihrem historischen Liebesdrama „Porträt einer jungen Frau in Flammen“, für den sie 2019 in Cannes den Drehbuchpreis erhielt, zu den wichtigsten weiblichen Stimmen im europäischen Autorenkino. Zuvor drehte sie unter anderem "Water Lillies" (2007) und "Tomboy" (2011). Ihr Film „Petite Maman“ über die märchenhafte Begegnung einer Achtjährigen mit ihrer eigenen Mutter im Kindesalter ist einer der schönsten Filme im Wettbewerb, bei der Jury ging er jedoch leer aus. Das Gespräch mit Céline Sciamma fand am Telefon statt.

Frau Sciamma, „Petite Maman“ handelt von der achtjährigen Nelly, die die Traurigkeit ihrer Mutter zu verstehen beginnt, als sie sich mit deren achtjährigem Selbst anfreundet. Woher kam diese Idee?

Am Anfang gab es nur das Bild von zwei Mädchen, die ein Baumhaus bauen. Ich fing dann nach dem ersten Lockdown mit dem Schreiben an, weil ich das Gefühl hatte, dass es in dieser Situation die richtige Geschichte sei, um über unseren Umgang mit Kindern und unsere kollektive Trauer zu sprechen.

Beginnt der Film darum in einem Pflegeheim? Nellys Großmutter ist gestorben, das Mädchen verabschiedet sich.

Die Szene hatte ich schon vor dem Lockdown. Als die Pandemie losging, bekam diese Abschiedsszene für mich eine neue Bedeutung, sie verwandelte sich von einer individuellen in eine kollektive Erfahrung. In Frankreich starben viele alte Menschen alleine in Heimen. Da wusste ich, dass ich den Film machen musste.

Nelly verliert ihre Großmutter und schließt gleichzeitig Freundschaft mit ihrer Mutter Marion. Was sehen Kinder in diesen Bezugspersonen, das Erwachsenen möglicherweise verborgen bleibt?

Mich interessiert weniger eine klassische Mutter-Tochter-Dualität. Ich wollte diese gängige Vorstellung weiterdenken. Großmütter spielen im Leben eines Kindes eine wichtige Rolle, besonders bei Mädchen. Sie sind genauso Bezugspersonen wie die Mutter. Für das kindliche Verständnis vom Konzept Tod ist die Großmutter sogar der Schlüssel. Darum wollte ich sie als Trio porträtieren. Dieser Bund spiegelt unser Erleben in der Kindheit am besten wieder: das Gefühl von Geborgenheit, wie wir aufwachsen, wie wir lieben. Ich wollte eine neue Mythologie für die Leinwand erschaffen, für mich hat das etwas Therapeutisches.

Mutter und Tochter, gleich alt, im Kinomärchen „Petite Maman“.
Mutter und Tochter, gleich alt, im Kinomärchen „Petite Maman“.

© Lilies Film

Inwiefern therapeutisch?

Es eröffnet spielerische Möglichkeiten für einen Dialog über die Fiktion von Familie, die im Grunde ja immer auf Rivalität beruht. Was aber, wenn wir eine neue Ebene in unseren Beziehungen zu geliebten Menschen finden, einen sicheren Ort, an dem wir ihnen einfach als Individuen begegnen können? Als beste Freundin zum Beispiel. Im Kino kann man damit spielen, und vielleicht öffnet sich dadurch ja ein Fenster – in der Vorstellung oder gar im Herzen. Du musst dann nur noch hineinklettern.

Nelly und Marion lernen im gemeinsamen Spiel, sich mit der Realität auseinandersetzen. Kann man sich so ähnlich auch die Dreharbeiten vorstellen?

Ungefähr. Alle meine persönlichen Beziehungen zu Menschen bestehen darin, mit ihnen etwas zu kreieren. Die Dreharbeiten fanden in einem Wald in der Nähe meines Geburtsortes statt, in dem ich selber als Kind Baumhäuser gebaut habe. Als wir dort ankamen, waren die Bäume aber noch grün, wir mussten also Laub aus umliegenden Wäldern heranschaffen. Da standen dann eine Handvoll Erwachsener und verteilten wie kleine Kinder Blätter über den Waldboden, damit die Szenerie herbstlich aussieht. Eine seltsame Erfahrung. Wir haben mitten in einer Pandemie gedreht, zugleich durften wir uns die Schwere der Zeit nicht zu sehr zu Herzen nehmen

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Können Sie Ihre Arbeit mit den Zwillingen Joséphine und Gabrielle Sanz beschreiben? Die Szenen von Nelly und Marion sehen ganz unbeschwert aus.

Die Frage, woraus genau ein Bild besteht und wie viel Herzblut du hineinsteckst, muss man ernst nehmen. Ich habe mit den beiden viel gesprochen, um ihren Rhythmus zu finden. Wenn sie zusammen spielen, folgen sie einem Drehbuch, wir haben sie nie allein gelassen. Kinder langweilen sich leicht, darum müssen die Dreharbeiten schnell gehen; wir hatten schließlich nur drei Stunden am Tag mit ihnen. Ein Beispiel: Wir haben nie über Gefühle gesprochen, es war zwischen uns immer ein Spiel mit dem Kino. Wenn Joséphine etwa alleine das Haus der Großmutter betritt, sagte ich ihr vorher, sie sollte sich eine Szene aus einem gruseligen Film vorstellen. Kinder verstehen intuitiv. Am Ende muss man annehmen, was sie einem geben.

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Die Mädchen begegnen sich sozusagen in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft.

Für mich ist das die Idee von reinem Kino. Zeit spielt im Film eine entscheidende Rolle. Auch das Publikum darf sich die Zeit nehmen, mit den Mädchen beim Spielen, beim Sich-Kennenlernen zu verweilen. Ich wollte das Sehen und das Erleben in Einklang bringen. Die Zuschauenden sollen den Raum bekommen, ihre eigene Geschichte zu entdecken. Ich hätte gerne noch mehr mit dem Motiv der Zeitreise gespielt. Aber damit hätte sich die Gegenwart aufgelöst. Ich wollte aber eine Zeitmaschine, die uns Gegenwärtigkeit schenkt.

Céline Sciammas Historienfilm „Porträt einer jungen Frau in Flammen“.
Céline Sciammas Historienfilm „Porträt einer jungen Frau in Flammen“.

© Alamode

Haben Sie sich trotzdem noch mal „Zurück in die Zukunft” angesehen? Ich musste ständig über Zeitreise-Paradoxien nachdenken – als Nelly etwa die jüngere Version ihrer Großmutter trifft.

Ich habe kaum einen Film so oft gesehen wie „Zurück in die Zukunft“. Ich liebe ihn. Er ist allerdings auch emblematisch fürs Hollywoodkino der Achtziger. Immer geht es um die Logik des Kapitals – und die Frage, wie ich in meine bourgeoise Welt zurückkehre. Ich finde es faszinierend, was in Zeitreisefilmen zirkuliert. Meine Inspiration war jedoch „Big“ von Penny Marshall; er steht „Petite Maman“ viel näher. Marshall behandelte das Thema Zeitreise erstmals mit einem weiblichen Blick: Ihr Film dreht sich nicht ums Geld, sondern um die Liebe.

Einmal verrückt Nellys Vater den Kühlschrank im Haus der Großmutter, dahinter kommt die alte Tapete zum Vorschein. Ein schönes Bild über Erinnerung.

Erinnern heißt für mich nicht nur, die Vergangenheit aufzusuchen. Es kann auch bedeuten, neue Erinnerungen zu schaffen. Wenn ich heute meine Zeitmaschine betrete, habe ich die heilsame Erinnerung an meine Großmutter, mit der ich 1933 in Kairo spiele. Heilung beruht nicht nur auf Wissen, auch Fantasien haben eine heilende Wirkung. Indem wir Beziehungen zu Menschen imaginieren, die nicht mehr bei uns sind. Das ist, wie mit den Geistern zu tanzen.
"Petite Maman" hat noch keinen deutschen Starttermin.

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