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In der Tradition des deutschen Idealismus. Dieter Henrich.

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Philosophische Erinnerungen: Auf Distanz zum Ich

Dieter Henrich zieht in einem autobiografischen Gespräch Bilanz.

Der 94-jährige Philosoph Dieter Henrich ist unter denen, die über Kant, Fichte und Hegel forschen, eine Legende. Mit 23 promoviert, mit 29 habilitiert, mit 33 berufen. 1981 erhielt der Protestant den krönenden Ruf ins katholische München. Von dort brachte er die Konstellationsforschung in Gang: Aus Briefwechseln und Tagebüchern wollte er rekonstruieren, wie die Philosophie des deutschen Idealismus aus einem „Denkraum“ heraus entstand.

Für spätere Konstellationsforschung liefert Henrich nun selbst einiges an Material. Die großen Namen erst der Nachkriegs-, später der internationalen Philosophie geben sich in einem locker gestrickten autobiografischen Gespräch mit Ulrich von Bülow, dem Leiter der Marbacher Archivabteilung, und dem Oldenburger Ideengeschichtler Matthias Bormuth, ein Stelldichein. So sah er in Hans-Georg Gadamer, dem Heidelberger Hermeneuten, eine „tief verankerte, erfahrungsgesättigte Humanität“ verkörpert. Bei Adorno nahm er dagegen eine „rattenfängernahe Rhetorik“ wahr.

[Dieter Henrich: Ins Denken ziehen. Eine philosophische Autobiografie. Verlag C.H. Beck, München 2021. 282 Seiten, 28 €.]

Philosophische Einschränkungen machte er für beide geltend: Etwa weiß er zu berichten, dass Gadamer sein Buch über Kants dritte Kritik nicht schrieb, weil er, Henrich, das besser könne. „Das Philosophieren schien mir eigentlich gar nicht zum Feld seiner besonderen Begabung zu gehören“, heißt es wiederum über Adorno. Brisant wird es, wenn Gadamers partielle „Anlehnungen an einen Sprachduktus“ des NS-Regimes mit dem hermeneutischen Prinzip erklärt wird: in allem irgendetwas zu entdecken, was „Sinn macht“.

Zählt allein das Werk?

Philosophische Lebensgeschichten sind ein kniffliges Genre. Die vielleicht Berüchtigtste passt in eine Zeile: „Er wurde geboren, arbeitete und starb.“ So fasste Martin Heidegger das Leben des Aristoteles zusammen. Zum Teufel mit allen alltäglichen Anekdoten: Was zählt, ist allein das Werk. Bis heute ist die Skepsis gegenüber der biografischen Reflexion groß. „Früh hatte ich beschlossen, niemals eine Autobiografie zu schreiben“, lautet dann auch der erste Satz im Buch.

Henrich hat es sich anders überlegt: Schließlich kreist seine eigene Philosophie um das Ich: Sein Hauptwerk zielt auf die „Grundlegung aus dem Ich“ (2004). Ein interessantes Gegenstück sind seine Erinnerungen „Ins Denken ziehen“. Noch in den Anekdoten steckt philosophische Reflexion. Warum er, wie viele Kinder, so spät „ich“ sagte? „Im Gebrauch von ‚ich‘ liegt auch eine Distanznahme.“

Der Gesprächsband setzt eine Reihe autobiografischer Rückblicke fort. Im letzten Jahr ist ein zweistündiges Audio-Buch erschienen: „Von sich selbst wissen“. Manche der Episoden konnte man da schon hören: etwa vom einsamen, frühkindlichen Aufenthalt im Krankenhaus und der nihilistischen Erfahrung, die er „tiefer als Nietzsche durchlebt“ zu haben glaubt. Systematischer sind die Erwägungen, die Henrich 2017 im Interview mit der „Deutschen Zeitschrift für Philosophie“ anstellte.

Wie ein roter Faden ziehen sich wissenschaftspolitische Reflexionen durch das neue Buch: Was macht eine gute Universität aus? Welche Strukturen braucht sie? Wie sieht gelungene Zusammenarbeit aus? Das ist nicht abstrakt gedacht, sondern aus den eigenen akademischen Erfahrungen kondensiert. Noch keine 30 war Henrich, als er die Leitung des Collegium Academicum in Heidelberg übernahm und dort das Studium generale plante.

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Stolpern wird man über Bemerkungen wie die zum „Fall Jauß“: Der einflussreiche Konstanzer Literaturwissenschaftler hatte seine SS-Mitgliedschaft lange vertuscht. Während die Forschung die personellen Kontinuitäten aus der NS-Zeit herausgearbeitet hat, spricht Henrich von „schematischer Ostrakisierung“. Schweigen stößt da auf Verständnis: „dann hält man den Mund. Was sollte man anderes tun?“, fragt Henrich seltsam rhetorisch.

Weniger Verständnis zeigt Henrich für die Studentenbewegung. Dass durch deren „kollektiven Druck“ Kollegen „zu Tode gekommen“ seien, beklagt er wiederholt. Henrichs Dialoge erlauben unterschiedliche Lesarten: Man kann sie als Erinnerungsbuch in einem Zug lesen. Man kann sie als historisches Dokument durchforsten und auch gegen den Strich bürsten und wird jeweils anderes entdecken.

Hendrikje Schauer

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