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Pisa-Studie: Zehn Jahre nach der ersten Studie herrscht Bildungspanik

Vor zehn Jahren schockte die erste Pisa-Studie Eltern und Eliten. Heute herrscht eine regelrechte Bildungspanik.

Wer Kinder hat, kennt solche Geschichten. Sie handeln von Siebenjährigen, die Geigenunterricht bekommen, damit sie es später auf ein Elitegymnasium schaffen. Von Eltern, die sich mit ihren Kindern auf dem Spielplatz in gebrochenem Englisch unterhalten. Oder, ein paar Jahre später, beim Elternabend die Einführung von Noten schon für Erstklässler verlangen. Ab wann sollte eigentlich Chinesisch auf dem Lehrplan stehen? Ganz zu schweigen von den teils abenteuerlichen Umzügen und Ummeldungen, die dem Ziel folgen, das eigene Kind in einer guten Grundschule unterbringen zu können. Wobei gut immer heißt: eine Schule mit möglichst wenig Kindern aus migrantischen Milieus.

Vor zehn Jahren hatte die Veröffentlichung der ersten Pisa-Studie für das Ende vieler Illusionen gesorgt. Deutschland war in Sachen Bildung bloß noch Mittelmaß. Unteres Mittelmaß. In der von der OECD durchgeführten Studie landete Deutschland bei den Naturwissenschaften und der Mathematik jeweils auf Platz 20, bei der Lesekompetenz auf Platz 21. Teilgenommen hatten 32 Länder. Inzwischen sind die Zahlen besser geworden, aber der Schock war nachhaltig. Die Verunsicherung ist geblieben bei Eltern, Schülern und Politikern.

Der Soziologe Heinz Bude konstatiert in seinem gerade erschienenen Essay bereits im Titel „Bildungspanik“ (Bildungspanik. Was unsere Gesellschaft spaltet. Hanser, München 2011, 144 S., 14,90 €). In dieser Panik zeigten sich „Statuserhaltungsinteressen der Mittelklassen“. Paradoxerweise scheint die durch Reformen der sechziger und siebziger Jahre erreichte Bildungsexpansion nun zu einer Haltung der Abriegelung zu führen. Gerade die Bildungsaufsteiger setzen alles daran, das ihre Kinder zumindest den Bildungsstatus der Eltern erreichen. Lange ist die Bundesrepublik ein Land der Aufsteiger gewesen, Geschichten wie die von Gerhard Schröder, der es als Sohn einer Putzfrau über den zweiten Bildungsweg zum Kanzler brachte, gehören zum Inventar der deutschen Nachkriegserzählung.

Heutige Daten vermitteln ein anderes, deprimierendes Bild. Aus der einstigen Bildungsrepublik ist eine geschlossene Gesellschaft geworden, in der die soziale Herkunft wie nirgends sonst in Europa über Schulabschlüsse und Lebenswege entscheidet. Das dreigliedrige Schulsystem von Hauptschule, Realschule und Gymnasium glaubt in einem, so Bude, „brutalen selektiven Mechanismus“ bereits in der vierten Klasse feststellen zu können, welches Kind auf die Universität gehört. Bewegung in diese erstarrte Landschaft bringt nur die innerstädtische Migration von Familien mit schulpflichtigen Kindern, die vor Bildungsghettos flüchten, in denen die Hauptschule zum „Überlebenscamp“ verkommen ist.

Bude kritisiert solches Verhalten keineswegs, die Familien handeln rational. Überhaupt ist es naiv zu glauben, soziale Ungleichheit ausgerechnet in der Schule aushebeln zu können. Darin liegt auch eine Schwäche der Pisa-Studien. Dort rangiert Japan auf vorderen Plätzen. Doch egalitär ist das japanische Bildungssystem nur auf den ersten Blick. Es herrscht das Prinzip des Ranking, von den Universitäten nach unten weitergereicht bis in die Kindergärten. Der Wettbewerb ist gnadenlos, neben den öffentlichen Einrichtungen hat sich die „Schattenerziehung“ eines expandierenden Bildungsmarktes etabliert. 67 Prozent der Achtklässler besuchen nach der Schule eine Ergänzungsschule. Auch in Deutschland boomt der Markt, Privatschulen sind auf dem Vormarsch.

Eine Vision, an die anzuknüpfen wäre, hat Ralf Dahrendorf 1965 in seiner Schrift „Bildung ist Bürgerrecht“ formuliert. Für eine freie Gesellschaft sei es unumgänglich, dass jeder Mensch Bürger sein kann nicht nur im Sinne seiner rechtlichen Chancen, sondern auch seiner sozialen Realitäten. Die Ermöglichung gleicher Lebenschancen muss das Ziel von Politik sein, allerdings – darin folgt Dahrendorf dem britischen Theoretiker Thomas Humphrey Marshall – ist zu viel Gleichheit nicht erstrebenswert. Die deutsche Gesellschaft könne durchaus mehr Dissens und Konflikt vertragen.

Bude ist scharf in der Analyse, doch seine Lösungsvorschläge bleiben diffus. Vage ist von einer „dritten Position“ zwischen technokratischen Schulreformern und besorgten Eltern die Rede. Am Ende gibt der Autor Entwarnung: Die Demographie rettet alle. Die geburtenstarken Jahrgänge werden spätestens in zwanzig Jahren abtreten, deshalb sind die Perspektiven für die heutigen Kinder rosig.

So erscheint das gleichzeitig herausgekommene Buch von Jörg Dräger (Dichter, Denker, Schulversager. Gute Schulen sind machbar – Wege aus der Bildungskrise, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011, 256 S., 17,99 €) wie eine Komplementärveröffentlichung zu Budes „Bildungspanik“. Der parteilose ehemalige Hamburger Wissenschaftssenator zitiert aus der Publikation „Die deutsche Bildungskatastrophe“ des Pädagogen Georg Picht von 1964 und findet verblüffende Übereinstimmungen mit der Gegenwart: große Unterschiede zwischen den Bundesländern, Bildungsnotstand als Vorläufer eines wirtschaftlichen Notstands.

Drägers Tonfall wirkt alarmistisch („Es ist längst nicht mehr fünf vor zwölf“), aber seine Lösungsvorschläge sind so konkret wie pragmatisch. Er spricht sich für eine Verdopplung der Kita-Plätze für Kinder bis zu drei Jahren, den quasi verbindlichen Kita-Besuch ab drei Jahren sowie flächendeckende Ganztagsschulen und eine Ausbildungsgarantie für jeden Schulabsolventen aus. Allein der Ausbau der Ganztagsschulen würde zehn Milliarden Euro kosten – dafür wären aber Kindergelderhöhungen (die letzte schlug mit vier Milliarden zu Buche) und das Elterngeld von ebenfalls vier Milliarden verzichtbar. Zu viele Kinder fallen durchs Raster. Alljährlich bleiben 250 000 Schüler sitzen. Das kostet eine Milliarde, und ein positiver Effekt lässt sich nicht messen.

Bildungspanik ist eine Reaktion der Ängstlichkeit. Was uns fehlt: mehr Mut.

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